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Towards Cybersociety and "Vireal" Social Relations


Bibliographische Zitation:
Geser Hans: Das Schlaraffenland des Informationszeitalters? Über das Internet als Supermedium und Faktor des gesellschaftlichen Wandels.
In: Sociology in Switzerland: Towards Cybersociety and Vireal Social Relations. Online Publikationen. Zuerich April 1997. http://socio.ch/intcom/t_hgeser02.htm


      

 

Das Schlaraffenland des Informationszeitalters? 

Über das Internet als Supermedium und als Faktor des gesellschaftlichen Wandels

Hans Geser

Zürich, April 1997

   

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Als ungeplante technische "Makroinnovation" das Internet überall in Kultur und Gesellschaft überraschend neue Entwicklungsperspektiven. Es unterstützt vor allem dezentrale und raumunabhängige Kommunikationsprozesse, die im Zuge der Deregulierung , Individualisierung und Globalisierung einerseits ohnehin im Gange sind, andererseits aber mit etablierten zentralistischen Strukturen in ein Spannungsverhältnis treten. 

 

Bereits der "stand-alone"- Computer ist - im schroffen Gegensatz zu den Spezialmaschinen des Industriezeitalters - ein Allzweckgerät, das in fast alle Arbeits- und Lebensbereiche vorgedrungen ist, im Zuge spielerischer Exploration ständig neue, grossenteils nie vorgesehene Anwendungen findet und dank immer freundlicherer "Benutzeroberfläche" auf immer breitere (und technisch unqualifiziertere) Bevölkerungskreise expandiert. Damit hängt zusammen, dass Computerkäufer meist nicht genau wissen, wozu sie das Gerät überhaupt brauchen, und dass die "Computerrevolution" eine aus vielseitigsten Quellen genährte zukunftsoffene Entwicklung darstellt, deren Wirkungen unübersehbar und in wirtschaftlichen Kategorien (z.B. Produktivitäts- oder Beschäftigungseffekten) nicht gut erfassbar sind. 

Miteinander vernetzte Computer sind die offensten technischen Systeme überhaupt, weil sie sich fast für fast alles, was Menschen miteinander tun (bzw. einander antun), einspannen lassen. Sie eignen sich für den offenen Meinungsaustausch genauso wie für die Verstärkung zentraler Kontrolle in der Bürokratie, für die Abwicklung von Markttransaktionen und die Pflege verwandtschaftlicher Beziehungen ebenso wie für die Durchführung demokratischer Abstimmungen, globale Übermittlung von Finanz- und Wetterdaten oder die terroristische Konspiration. 

Das Internet als "Netz der Netze" schliesslich lässt jeden Zukunftspropheten fast völlig verzweifeln, weil sich Millionen unabhängiger Einzelpersonen, Verbände, Behörden und Institutionen aus fast allen Ländern der Erde an seinem Ausbau mitbeteiligen, und weil seine Einsatzmöglichkeiten durch Innovationen auf Hard- und Softwareebene alle paar Monate noch weiter expandieren. Die Metapher vom "Cyberspace" als einer "collective hallucination" (geprägt vom Science Fiction Autor W. Gibson 1984) eröffnet die Perspektive eines integralen künstlichen Online-Universums, den wir alle besiedeln und möblieren können mit dem Ziel, eine unseren Phantasien entsprechende Virtualperson zu sein und ein von den Schwerfälligkeiten der Realwelt befreites Kultur- und Gesellschaftsleben zu entfalten. 


Ein robustes Supermedium für alle

Immerhin dürfte das Internet auch in Zukunft einige grundlegende Strukturmerkmale beibehalten, die ihm seit seiner seltsamen Geburt (Ende der 60er Jahre) eingepflanzt worden sind, als das Defence Departement der USA den Auftrag erteilte, ein möglichst unzerstörbares, selbst nach einem Nuklearkrieg noch funktionierendes Kommunikationssystem zu entwickeln. Die Lösung bestand in einer den konventionellen Massenmedien völlig konträren Architektur, die Dezentralität, Resilienz, und Globalität in sich vereinigt. 

Dezentralität:
Jeder Nutzer ist ein gleichgestellter Kommunikationspartner, der alle Fähigkeiten zum Generieren, Senden, Empfangen, Speichern, Verarbeiten und Weiterleiten von Information auf sich vereinigt. Dadurch verschwindet die Asymmetrie zwischen (wenigen) Produzenten und (vielen) Konsumenten, auf der alle bisherigen Massenmedien beruhen. Und es verflüchtigt sich die technische Grundlage, die bisher für die Differenzierung des Mediensystems in Buch- und Presseverlage, Radio- und TV--Gesellschaften und Telephonunternehmungen verantwortlich war (Negroponte 1995). Auf der Nutzerseite sind bereits jetzt Universalgeräte in Sicht, die Funktionen des Computers mit demjenigen des Fernsehgeräte, Telephons und der Stereoanlage kombinieren. Der Bogen spannt sich von privatesten, dank raffinierter Verschlüsselung nicht einmal von Geheimdiensten entzifferbare E-mail-Botschaften bis zu öffentlichsten, an jedem Punkt der Erde rezitierbaren Publikationen - und ein Mausklick genügt, um eine Text- ,Bild- oder Tondatei vom einen in den andern Modus zu transponieren. 

Resilienz:
Information wird im Internet nicht durch vorbestimmte Leitungen spediert, sondern in Pakete zerlegt, die an ihrem Kopf ihre Destinationsadresse tragen und sich im Netz selbständig ihren Weg suchen. Deshalb funktioniert das Internet selbst in Staaten, die - bedingt durch Krieg, Unterentwicklung u. a. -kein zuverlässiges Telefonnetz besitzen. (So hat es im Bosnienkrieg eine gewisse Kommunikation zwischen den Staaten Exjugoslawiens sichergestellt, als alle PTT-Dienste darniederlagen). Aus demselben Grund ist Zensur ist weil sie nur eine jener "Störungen" darstellt, gegenüber denen das Netz unempfindlich ist. Zur Resilienz gehört auch, dass sich der Datentransfer unabhängig von den Spezifika der physischen Computer und ihrer Betriebssysteme vollzieht. Deshalb hat sich das Internet rasend schnell weltweit verbreiten können, ohne dass einheitliche Hard- oder Softwarestandards dazu nötig waren. 

Globalität:
Im Gegensatz zu lokalen "Freenets" oder firmeneigenen "Intranets" ist das Internet global in dem strikten Sinne, dass jeder Netzzugang den Zugang zu weltweiten , an keine nationalen Grenzen gebundenen, Kommunikationswege impliziert. Als Folge entsteht zwingend ein Kommunikationsraum, der sich den territorialstaatlichen Kontrollen entzieht und nur durch eine weltstaatliche Instanz kontrollierbar wäre. Aufgrund der Irrelevanz geographischer Standorte und Distanzen entsteht im Internet ein qualitativ neuartiges Gefühl des globalen "Zusammenseins", das mit den ethnisch-lokalen Ab- und Ausgrenzungen in der "Realwelt" fast tragikomisch kontrastiert. 

 

Die Entthronung der Sender und Produzenten:

Traditionelle Massenmedien wie Strassenplakate, Presse, Radio und Fernsehen sind typische "Push-Medien", die ihre Rezipienten mit ihren manchmal überraschenden und lehrreichen, manchmal verdriesslichen und überflüssigen Botschaften unfreiwillig überfallen. Sie sind unverzichtbar, wenn es darum geht, Menschen mit neu lancierten Produkten oder den jüngsten Wahlkandidaten der Parteien vertraut zu machen oder ihre Aufmerksamkeit auf bisher unbeachtete Ereignisse oder Problemlagen umzudirigieren. 

Das Internet profiliert sich demgegenüber als ein Pull-Medium, das mich als Surfer ständig auf meine eignen inneren Bedürfnisse, Interessen und Geschmacksrichtungen zurückwirft, um andauernd neue Entscheidungen darüber, welche Websites ich betrachten will, zu treffen. Und in Zukunft wird es mit Hilfe von Softwareagenten (Suchrobotern) möglich sein, das gesamte Netz andauernd nach mich interessierenden Informationen zu durchforsten und jeden Morgen eine auf meine Hobby-Bedürfnisse und Berufsarbeit zugeschnittenen Informationscocktail ("Daily me") präsentiert zu erhalten. Dadurch entsteht die Gefahr, dass sich jedes Individuum kumulativ in seiner privaten Informationswelt isoliert, sich gegen Überraschungen und (Um-) Lernmöglichkeiten abschliesst und bei der Begegnung mit andern Menschen keine gemeinsamen Gesprächsthemen mehr findet. 

Für die Werbebranche bedeutet dies, dass Basisinformationen über neue Produkte, Wahlkandidaten u. a. nach wie vor zuerst über konventionelle Medien verbreitet werden müssen, während das Internet hingegen später, wo Information über bekannte Produkte oder Personen nachgefragt wird, an Bedeutung stark gewinnt. Überdies müssen potentielle Kunden durch spezielle Anreize verlockt werden, Werbeangebote überhaupt anzusehen: z.B. indem man ihnen Wettbewerbspreise in Aussicht stellt oder sie -wie neuerdings eine kalifornische Firma - für das Lesen von Werbung zeitabhängig honoriert. Konkurrenzlos wird sich das Internet vor allem im Bereich der Suchinserate (Stellen, Immobilien, Autos u. a.) erweisen, weil es  (a) den Inserenten die Möglichkeit bietet, praktisch kostenlos sehr ausführlich und gar multimedial ausgestattete) Ausschreibungen zu platzieren und (b) die Rezipienten in die Lage versetzt, bei beliebig grossem Inserateaufkommen äusserst zielsicher und speditiv nach dem ihnen zusagenden Angebot zu suchen. 

Dies bedeutet, dass insbesondere die Tageszeitungen mit hohen Einnahmeeinbussen zu rechnen haben - sehr viel mehr als etwa das Fernsehen, das sich - als klassisches Push-Medium - weitgehend über Produktewerbung finanziert.

 

Endlich eine "kommunikative Öffentlichkeit" ?

Das seit der Aufklärungszeit verkündete Idealbild einer allen mündigen Bürgern zugänglichen öffentlichen Kommunikation hat sich aufgrund der bisherigen Massenmedien, in denen fast jedermann zum passiven Rezipienten degradiert wird, immer weiter von der Wirklichkeit entfernt. Gerade die neuesten Tendenzen zur Entstehung globaler Medienkonzerne und lokaler Zeitungsmonopole kollidieren aufs schärfste damit, dass mit zunehmendem Bildungs- und Informationsniveau immer breitere Teile der Bevölkerung fähig und motiviert sind, sich gleichberechtigt an der öffentlichen Diskussion zu beteiligen. Während die herkömmlichen Massenmedien den hierarchischen Institutionen isomorph sind, unterstützt das Internet politische Dezentralisierung und Demokratie. So erleichtert es die Durchführung von Volksabstimmungen und die Organisation von politischen Kampagnen, erlaubt einen niederschwelligen öffentlichen Zugang zu Parlamentsvorlagen und anderen wichtigen Dokumenten und begünstigt den vertikalen Kommunikationsfluss zwischen der Bevölkerung und ihren gewählten Repräsentanten (vgl. Geser 1996). Vor allem das "Usenet" mit seinen vielen tausend kostenfrei zugänglichen "Newsgroups" bietet die Basis für allseits zugängliche Öffentlichkeit, die sich praktisch kostenfrei entfaltet. 

Computervermittelte Diskussionsgruppen unterscheiden sich von Gesprächen am runden Tisch durch manche Eigenschaften, die für einen rationaleren, produktiveren Gesprächsverlauf nutzbar sind. Weil die Teilnehmer ihre persönlichen Merkmale (Alter, Geschlecht, Gesichtsmimik u .a.) nicht zur Geltung bringen können, kann sich ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Wortlaut der Mitteilungen und die logische Qualität der Argumentationen konzentrieren; weil der ganze bisherige Gesprächsverlauf offen zutage liegt, ist es besser möglich, einen Gesprächsfaden diszipliniert weiterzuspinnen und nicht nur auf das unmittelbar vorangegangene, sondern auch auf frühere Voten zu reagieren; keinerlei Zeitknappheiten zwingen dazu, die Redezeit zu beschränken und die Redechancen ungleich auf die Teilnehmer zu verteilen. Jeder kann sich zu jedem Augenblick äussern und dabei auch sehr komplexe Voten (z.B. schriftliche Dokumente) in den Diskurs einspeisen; Spontan-unüberlegte Äusserungen können vermieden werden, weil jeder Sender genug Zeit hat, sie vorzubereiten und jeder Empfänger genug Zeit, um sie zu interpretieren (vgl. Hiltz/Turoff 1993). 

In den nächsten Jahren wohl erleben, dass sich selbst in kleineren Gemeinden ohne eigene Lokalzeitung eine rege und pluralistische kommunale Online-Öffentlichkeit entfaltet, dass sich Auslandschweizer über alle Kontinente hinweg zum Austausch über innenpolitische Themen zusammenfinden, und dass sich - wie heute bereits in der deutschen SPD - zumindest ein Teil der parteiinternen Meinungsbildung in der elektronischen "Netzöffentlichkeit" vollzieht. Bereits heute zeichnet sich ab, dass das Netz zur Verbreiterung des politischen Meinungsspektrums (vor allem am extrem linken und rechten Pol) beiträgt, weil viele Kleinstgruppierungen zum ersten Mal eine Chance zur öffentlichen Selbstdarstellung erhalten, und weil sich manche Einzelne mit exotischen Ansichten zur Meinungskundgabe ermutigt fühlen. 

So wirkt die Netzkommunikation fragmentierend, indem sie die Konsensbildung erschwert und es immer unwahrscheinlicher macht, dass sich die vielen fragmentierten "Diskursinseln" zu einer einheitlichen, politisch relevanten "öffentlichen Meinung" aggregieren

 

Kooperativere und dynamischere Formen kultureller Produktion:

Im Gegensatz zur arbeitsteiligen Produktion wirtschaftlicher Güter und Dienstleistungen ist im Bereich der Literatur, Musik und Kunst bisher eine eher ”kleinhandwerkliche”, stark individuell geprägte Produktionsweise vorherrschend geblieben. Die Computernetze eröffnen nun die - bereits heute vielfältig benutzte - Chance, etwa die Verfassung eines Romans oder einer wissenschaftlichen Abhandlung sowie die Herstellung von Graphiken oder Musikkompositionen im Rahmen raumunabhängiger Kooperation stattfinden zu lassen: so dass die Endprodukte nicht mehr eindeutig an einzelne Autoren zurechenbar sind. Weil alles, was im Netz publiziert wird, jederzeit beliebig revidierbar bleibt, werden Texte nicht mehr wie in der Buchdruck-Ära als irreversibel fixierte Schriftwerke (die man nur noch "verteidigen" kann) aufgefasst, sondern eher als vorläufige, zur Replik einladende Diskussionsbeiträge, in deren Wachstum und Veränderung sich der Lernprozess ihres Autors und der Fortgang des elektronischen Meinungsaustausches widerspiegelt. Bald wird man finden, dass der Buchdruck eigentlich seit jeher nur für die Bibel und andere autoritative (=unwandelbare) Texte geeignet war, während das Internet nun endlich der Wissenschaft ein Medium an die Hand gibt, das ihren Vorstellungen von der Vorläufigkeit, Umstrittenheit und Unvollendetheit menschlichen Wissens entspricht. 
 

Neue Chancen (und Grenzen) der Kommerzialisierung:

Wie kaum eine andere Erfindung der letzten 200 Jahre ist das Internet ausserhalb der Wirtschaft entstanden und wird in breiten Wirtschaftskreisen als ungewohnte Innovation empfunden, die Unsicherheit erzeugt und insbesondere im Marketing zu völlig neuartigen Denkweisen und Handlungsstrategien zwingt. Ein umfassender Einsatz des Internets als Instrument ökonomischer Produktions- und Austauschprozesse hätte tiefgreifende volks- und globalwirtschaftliche Strukturwandlungen zur Folge, die heute noch kaum überblickbar sind. Zum einen würden damit alle Wirtschaftssubjekte (selbst unbedarfte Kleinstbetriebe und Einzelkonsumenten) einen niederschwelligen Zugang zu globalen Märkten gewinnen und ohne besonderen Eigenaufwand oder Vermittlungsleistungen Dritter in der Lage sein, sich über aktuelle Angebots- und Nachfrageverhältnisse detailliert zu informieren. Kein Reisebüro wäre mehr nötig, um den günstigsten Tagesflug nach San Domingo zu eruieren, und keine teuren Maklergebühren, um das mir optimal zusagende Ferienhaus in Südfrankreich zu finden. Spezielle Zusatzteile zu meinem Computer kann ich ohne Inanspruchnahme des Zwischenhandels direkt bei der amerikanischen Produktionsfirma bestellen und für meine Übersetzungen ins Englische kann ich einen hochbegabten Israeli finden, der im Vergleich zu hiesigen Dolmetschern einen dreimal niedrigeren Stundenansatz verlangt. 

So fördert das Internet die Emanzipation der Arbeitnehmer zu "free lancers", die in eigener Regie ihre Fähigkeiten an jeweils Meistbietende vermarkten, ohne sich mehr exklusiv an eine beschützende Firma zu binden. Mit seinem immensen Beitrag zur Markttransparenz sorgt es dafür, dass die idealisierten Modellannahmen der neoklassischen Konkurrenztheorie in besserer Annäherung verwirklicht sind und sich endlich jener "frictionless capitalism" (Bill Gates) einstellen kann, der für einen voll deregulierten globalen Wettbewerb die Voraussetzung bildet. 

Natürlich muss im Medienbereich mit besonders dramatischen Auswirkungen gerechnet werden, weil das Netz auch hier jedem Einzelnen die Chance bietet, ohne Inanspruchnahme von Verlagshäusern, Sendeanstalten (ja sogar ohne Anschaffung von Fotokopiergeräten oder Frankiermaschinen) publizistisch tätig zu werden.  Die Hauptgefahr entsteht für das kommerzielle Publikationswesen dabei nicht in erster Linie durch jene Piraten, urheberrechtlich geschützte Werke widerrechtlich weiterverbreiten, sondern durch all jene idealistischeren Autoren, die im Interesse einer maximalen Verbreitung ihrer Werke liebend gern bereit sind, überhaupt auf jegliches Copyright zu verzichten. Dazu gehören - abgesehen von ungezählten Lyrikern, Traktatschreibern, Hobby-Historikern u. a. - vor allem die im Bildungs- und Wissenschaftsbereich tätigen Autoren, deren Werke primär nicht dem Gelderwerb, sondern dem Reputationsgewinn und akademischen Aufstieg dienen.  Aber selbst dann, wenn alle Autoren kommerziell gesinnt wären, würden die Verkaufspreise infolge des harten globalen Wettbewerbs nie wesentlich über den (ständig weiter sinkenden) Gestehungskosten liegen; und mit Hilfe von Sponsoren als Werbeträger dürfte es meist gelingen, auf dem strikten Nulltarif zu verbleiben. So kann heute jeder Arzt und interessierte Laie via "MEDLINE" kostenlos Einblick in 8 500 000 (!) medizinische Forschungspublikationen gewinnen, um sich z.B. über den neuesten Forschungsstand bezüglich der Wirkung von Tetracyclinen oder der Prostata-Laserchirurgie zu informieren. Und "Encarta online library" offeriert für ein bescheidenes Entgelt die Nutzung einer gigantischen (und alle paar Tage aktualisierten) allgemeinen Enzyklopädie. 

Wahrscheinlich werden sich auch Autoren an die - in den meisten anderen Berufen längst selbstverständliche - Tatsache gewöhnen müssen, dass man nicht mehr für längst vergangene Produktionen, sondern nur noch für aktuell erbrachte Dienstleistungen wesentliche Einkünfte erzielen kann. (Beispielsweise könnte ich einem mir besonders zusagenden Lyriker, 10 Dollar überweisen, damit er mir seine zukünftigen Gedichte regelmässig per Email zusendet, oder einen wirtschaftlichen Nachrichtendienst unter der Bedingung abonnieren, dass er mich automatisch mit allen über die Firma X und Y erscheinenden Meldungen bedient). 

Generell dürften sich die kommerziellen Chancen im Medienbereich stärker auf die Ebene "sekundärer" Produkte (z.B. Suchmaschinen oder Expertensysteme) verlagern, die den Nutzern dazu verhelfen, im immer unübersehbareren Angebot Produkte die ihren momentanen Bedürfnissen und Geschmacksrichtungen optimal entsprechendsten Informationen zu finden (Dyson 1995, Barlow 1994).  Insgesamt überwiegt aber der Eindruck, dass das Internet netto eher zu einem Schrumpfen der kommerziellen Produktions- und Arbeitswelt führen dürfte, innerhalb der verbleibenden Bereiche jedoch dazu beitragen wird, die Globalisierung und Deregulierung zu verstärken und den Konkurrenzdruck zu intensivieren. Generell ist die Kommerzialisierbarkeit des Internet untrennbar mit der Schaffung eines "Cybermoney" verbunden, das im Netz problemlos hin- und her transferiert werden kann. Manche aktuelle Gratisanbieter von Netzdienstleistungen scheinen nur auf diesen Tag zu warten, um dann zum Gebühreneinzug überzugehen. (Beispielsweise müsste ALTAVISTA (die beliebte Suchmaschine der DEC) bei der heutigen Frequenz von ca. 26 Millionen täglichen Anfragen für jeden Suchauftrag bloss 1 Cent verlangen, um sich einen Jahresumsatz von nahezu $ 100'000'000 (!) zu sichern).

 

Anarchie oder Selbstregulation?

Für den Soziologen ist das Internet eines der faszinierendsten Beispiele einer "spontanen" sozialen Ordnung, die ohne planende Gestaltung durch Institutionen entstanden ist und ohne zentralistische Normgebung und Kontrolle bisher durchaus zufriedenstellend funktioniert. Sicher ist die Ausbildung der heutigen "netiquette" , die vor allem das Kommunikationsverhalten in den ungezählten "Newsgroups" normiert durch die neuere Kultur der "political correctness" sowie die relativ hohe kulturelle Homogenität der bisherigen Nutzer erleichtert worden (Shade 1996). 

Die wachsende Diversifikation der Teilnehmerkreise wird sich unvermeidlich in einer multikulturellen Fragmentierung der Netzöffentlichkeit widerspiegeln und unsere Toleranz für Freiheiten der Meinungsäusserung auf die bisher härteste Probe stellen. (Beispielsweise dürfte auch die Durchsetzung von Rechtschreibreformen zukünftig unmöglich werden, weil unzählige Einzelne unabhängig (d.h. ohne die disziplinierende Wirkung bisheriger dudengewandter Verlagskorrektoren) publizieren). Zu den bedenklicheren Aspekten dieser Anarchie gehört auch, dass sich Entwicklung des Internet ohne zentralen Plan vollzieht und dass kein theoretisches Modell erstellt werden kann aus dem sich beispielsweise seine Transmissionskapazitäten und Belastungsgrenzen herleiten liessen. Vorläufig funktioniert es hinreichend (in letzter Zeit sogar wieder besser), ohne dass jemand die genauen Gründe dafür kennt und die Investitionen berechnen kann, die angesichts seiner aktuellen Expansionsrate (ca. 100% jährlich) notwendig wären. 

Generell wird das Internet erheblich zur kulturellen Pluralisierung und Individualisierung, unserer Gesellschaft ("Postmoderne") beitragen und vielleicht dafür sorgen, dass ein grösserer Bevölkerungsanteil als in allen bisherigen Gesellschaften zu den - im weitesten Wortsinne - "kulturell produktiven" Schichten zählt. Kein Hobby ist zu ausgefallen und kein Interessengebiet zu entlegen, um nicht irgendwo in der Welt zumindest einige wenige Gesinnungsfreunde zu finden. Nur dank dem Internet gibt es heute Gruppen, die regelmässig altlateinische Konversation oder die Textauslegung unbekannter Neuplatoniker betreiben - und damit vom Untergang bedrohtes Kulturgut auf kleiner Flamme revitalisieren. 

Das Internet passt in unsere Zeit, weil es einerseits viele ohnehin im Gang befindliche Entwicklungen (Deregulierung, Individualisierung, Globalisierung, just-in-time production, Kundenorientierung) unterstützt, und weil es andererseits ein Korrektiv gegen überhandnehmende Ungleichheiten, Machtstrukturen und ethnisch-nationale Horizontverengungen bildet.  Indem es für alle überall umfassende Möglichkeiten der Informationsgewinnung, des Kommunizierens und Publizierens bereitstellt, bildet es eine jener seltenen technischen "Makroinnovationen", deren Bedeutung höchstens noch mit dem Aufkommen der Schriftkultur oder der Einführung der elektrischen Stromversorgungsnetze verglichen werden kann. Als wohl umfangreichstes "Nonprofit-Unternehmen" der Geschichte erzeugt es eine immense Wertschöpfung, die nirgends im Bruttosozialprodukt erscheint (und auch keiner nationalen Wirtschaft zurechenbar wäre). In einer mutlos-rezessiven Zeit ohne begeisternde Zukunftsperspektiven profiliert es sich als ein wahrhaft globales, mit atemberaubender Dynamik expandierendes Gemeinschaftswerk, das in allen Arbeits- und Lebensbereichen neue Entfaltungschancen öffnet und von uns allen kreativ mitgestaltet werden kann. 


Literatur:

Barlow, John Perry: The Economy of Ideas (Wired 2.03, March 1994). 

Bonchek, Mark S.: Grassroots in Cyberspace. Using Computer Networks to Facilitate Political Participation 
(
http://www.organizenow.net/techtips/bonchek-grassroots.html). 

Dyson, Esther; Intellectual Value (Wired Ventures Ltd 1995). 
(
http://www.wired.com/wired/archive/3.07/dyson_pr.html). 

Geser, Hans: Auf dem Weg zur Cyberdemocracy
(
http://www.unizh.ch/~geserweb/komoef/ftext.html): 

Gibson, William: Neuromancer (Ace Books, New York 1984). 

Hiltz, Starr Roxanne / Turoff Murray: The Network Nation: Human Communication via Computer (MIT Press Cambridge Mass 1993). 

McGreal, Rory: The New Brunswick Net: the 21st Century Now (Interpersonal Computing and Technology: An Electronic Journal for the 21st century. Vol 2, Jan. 1994, 11-21). 

Negroponte, Nicholas: Total Digital (Bertelsmann, München 1995). 

Shade, Leslie Regan: Is there Free Speech on the Net? (in: Shields, Rob (ed.) Cultures of Internet, Sage Publ. London 1996: 11-32). 

Turkle, Sherry: Life on the Screen (Simon & Schuster, New York 1995).

Last update: 05. Dez 14


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  Prof. Hans Geser
Soziologisches Institut

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