Demokratietheorie

Eine vergleichende Analyse verschiedener
Demokratietheorien

Emanuel Möcklin

Zürich 1997

Inhalt

1. Einleitung

1.1 Die Bedeutung von Demokratie
1.2 Das Ideal
1.3 Die Realität
1.4 Die Revolution?

2. Zur Begrifflichkeit

2.1 Empirische Demokratietheorie
2.2 Normative Demokratietheorie
2.3 Kritik

3. Empirische Demokratietheorie

3.1 Demokratie als Methode
3.2 Polyarchie
3.3 Elitenherrschaft
3.4 Ökonomische Theorie der Demokratie

4. Normative Demokratietheorie

4.1 Die Athenische Demokratie

4.1.1 Dêmoi
4.1.2 Ecclêsia
4.1.3 Boulê
4.1.4 Dikastêria
4.1.5 Staatsbeamte
4.1.6 Beurteilung der athenischen Demokratie

4.2 Rousseau - le contrat social
4.3 Die Erneuerung des klassischen Demokratiebegriffs

5. Zusammenfassung

6. Bibliographie


1. Einleitung

1.1 Die Bedeutung von Demokratie

Hans Kelsen bezeichnet den Begriff der Demokratie als den "missbrauchtesten aller politischen Begriffe" (Kelsen, Hans: Vom Wesen und Wert der Demokratie, 1929, S. 1, zit. nach Neumann 1987, S. 107) und Frank Grube meint zur Frage, was Demokratie sei: "Diese Frage ist - zugespitzt formuliert - wahrscheinlich ebenso oft verschieden beantwortet worden, wie sie gestellt wurde"( Grube 1975, S. 9).

Etymologisch gesehen ist die Sache eine einfache, denn Demokratie, zusammengesetzt aus dem griechischen dêmos "Volk" und kratos "Herrschaft" oder "Macht" ( Stockton 1990, S. 1), bedeutet Volksherrschaft, also Regierung oder Macht des Volkes. Dass die Sache allerdings nicht so einfach ist, folgt allein schon aus der Tatsache, dass es so viele Staaten gibt, die sich in fundamentaler Weise voneinander unterscheiden und die sich trotzdem eine Demokratie nennen. Kaum ein Staat dieser Erde, der nicht "demokratisch" ist. Unterschiedslos reihen sich "demokratisch" gewählte Diktatoren, "demokratische" Volksrepubliken, repräsentative "Demokratien" und direkte "Demokratien" nebeneinander auf. Die Beschränkung auf Demokratien westlicher Prägung bringt auch keine Klärung, zu viele grundsätzliche Differenzen zeigen sich auch hier, als dass der Begriff Demokratie eine einheitliche Bedeutung erlangen könnte. Schlimmer noch als die Vielfalt der "demokratischen" Erscheinungen ist allerdings die Tatsache, dass realiter keine Demokratie im wörtlichen Sinne zu existieren scheint. Volksherrschaft heisst im besten Fall noch, dass Vertreter gewählt werden, dass gewisse Gesetze angefochten und in geringem Masse auch Gesetzesänderungen vorgeschlagen werden können. Weder die Volksversammlung, an der über politische Angelegenheiten diskutiert und entschieden wird, noch der politisch interessierte und dementsprechend gebildete Bürger ist heute Realität. Entscheide werden meist ohne Konsultation des Volkswillens und manchmal auch gegen diesen gefällt. Ist Demokratie oder Volksherrschaft also nur eine Worthülse, die nach Gutdünken verwendet werden kann?

Trotz der scheinbaren Inhaltslosigkeit ist die etymologische Definition ein brauchbarer Ausgangspunkt, wenn berücksichtigt wird, dass es sich bei dieser Definition um ein Ideal handelt. Einerseits impliziert die Unverbindlichkeit des allgemeinen Ideals die Besonderheiten des Tatsächlichen, die Verschiedenheit der real existierenden Demokratien, andererseits folgt aus dieser Unverbindlichkeit und dem Verhältnis zwischen Ideal und Realität, das im folgenden Abschnitt detailliert erläutert wird, dass die Diskussion über Demokratieideale notwendig ist, dass schliesslich ein explizit normativer Diskurs[1] zwingend ist, wenn man nicht bei der Allgemeinheit der etymologischen Definition stehen bleiben und/oder sich von dieser in die Irre führen lassen will.

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1.2 Das Ideal

Ideale sind Bilder eines wünschenswerten oder gewünschten Zustandes und begleiten die Geschichte als deren unruhiges, entgegenwirkendes oder feindliches Element. Ideale sollen einerseits Tatsachen in Frage stellen und Widerstände überwinden helfen, andererseits sind Ideale aber nie zur völligen Verwirklichung gedacht, denn sie beschreiben ein Sollen und kein Sein. Ideale schöpfen ihre Kraft aus der Diskrepanz zwischen sich und der Realität, dem Widerspruch zwischen Anspruch und Tatsachen. Je mehr sich Realität und Ideale nähern, desto mehr verlieren letztere ihre Kraft.

Das demokratische Ideal muss unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet werden. Einerseits als demokratisches Ideal ohne demokratisches System und andererseits im Rahmen einer Demokratie. Im ersten Fall wirkt das demokratische Ideal als feindliches, ein das System negierendes Ideal. Je mehr dieses Ideal auf die Spitze getrieben wird, je reiner die Idee verkündet wird, desto grösser ist möglicherweise seine Wirksamkeit. Im Falle der Verwirklichung der Demokratie, die gemessen am Ideal sicherlich eine höchst unvollkommene ist, ändert sich das Verhältnis zwischen Ideal und Realität. Wo vorher Widerspruch und Negation vorrangig waren, ist das Verhältnis nun kritisch und reflexiv. Nicht mehr eine andere, sondern die eigene Welt wird nun idealisiert und es herrscht keine grundsätzliche Unvereinbarkeit mehr zwischen Idee und Realität, sondern ein Verhältnis der gegenseitigen Befruchtung. Reflexivität meint, dass einerseits das demokratische Ideal sich empirischen Befunden nicht entziehen darf, dass jenes aufgrund der Befunde aber auch nicht zur Farce verkommen darf, um schliesslich nur noch der Legitimierung des Status quo zu dienen. Ein demokratisches Ideal, dass seines Inhalts beraubt wird, weil angebliche Sachzwänge den Status quo "erzwingen", beginnt sich letztlich ebenso gegen die von ihm geschaffene Demokratie zu richten, wie ein demokratisches Ideal, dass in seiner extremsten Form aufrecht erhalten wird.

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1.3 Die Realität

"Government of the people, by the people, for the people". Dieser Ausspruch von Abraham Lincoln, der im Rahmen seiner Gettysburger Ansprache im Jahre 1863 erfolgte (Sartori 1992, S. 44), bringt trotz seiner grammatikalischen Mehrdeutigkeit auf den Punkt, was in unseren Köpfen als demokratisches Ideal existiert: Regierung des Volkes, durch das Volk, im Interesse des Volkes. Zwar lässt diese Formulierung einigen Interpretationsspielraum, insbesondere was die Breite des Politikbereichs anbelangt, dennoch wird auch bei einer grosszügigen Interpretation klar, dass das demokratische Ideal so nicht verwirklichbar ist.

Sartori etwa verweist darauf, dass mit Volk nicht buchstäblich alle gemeint sein können, dass in der griechischen Demokratie vom demos nicht nur die Frauen, sondern auch die Sklaven, die alleine schon eine Mehrheit der athenischen Bevölkerung ausmachten, ausgeschlossen waren und dass heute Frauen zwar einbezogen, Minderjährige, geistig Behinderte, Strafhäftlinge, Ausländer und Wohnsitzlose aber immer noch ausgeschlossen werden (a.a.O., S. 30 f).

Bobbio seinerseits analysiert die Bedeutung der Mehrheitsregel für die Demokratie und kommt zum Schluss, dass die Mehrheitsregel dem einstimmigen Entscheid aus wertrationaler Sicht unterlegen, aus zweckrationaler Sicht hingegen überlegen ist. Mehrheitsentscheide sind einstimmigen Entscheiden also vorzuziehen, weil sie kollektive Entscheide in grösseren sozialen Gebilden überhaupt erst ermöglichen und nicht weil sie dem demokratischen Ideal besser entsprechen (Bobbio, Norberto: Die Mehrheitsregel: Grenzen und Aporien, in: Guggenberger 1984, S. 108 ff).

Beck wiederum spricht von der "militärisch halbierten Demokratie", wenn er sagt, dass sich Militär und Demokratie zueinander verhalten wie "Feuer zu Wasser" (Beck 1993, S. 125). "Fragt die Demokratie nach dem Willen des Individuums, so fordert das Militär seine Unterordnung. Geht dort alle Macht vom Volke aus, so kommen hier alle Befehle von oben" (a.a.O.). Im Vorhandensein eines äusseren Feindes liegt für ihn im wesentlichen die Ursache für die Halbierung der Demokratie in Bürger und Soldat, für die innere Widersprüchlichkeit moderner Demokratien schlussendlich, wie das auch beim klassischen Vorbild, der antiken Demokratie Athens, der Fall war (a.a.O., S. 124 ff).

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1.4 Die Revolution?

An der Schwelle von der Industrie- zur Informationsgesellschaft scheinen die klassischen Demokratieideale nun aber Unterstützung zu erhalten. Die neuen Möglichkeiten der Kommunikation, die sich durch den Einsatz von Computernetzwerken ergeben, werden als die "folgenreichste technologische Revolution seit Erfindung des Buchdrucks" bezeichnet (Negroponte 1995)[2]. Das Internet als bekanntester Vertreter seiner Art soll die Machtverteilung und -ausübung in den modernen Demokratien ganz entscheidend verändern: herrschaftsemanzipierte Kommunikation, mehr Öffentlichkeit, mehr Partizipation, mehr Kontrolle, mehr Selbstbestimmung schliesslich. Dies jedenfalls ist die Meinung vieler Autoren, die sich mit den neuen technologischen Möglichkeiten und deren Auswirkungen auf die Politik beschäftigen. Dabei wird davon ausgegangen, dass die proklamierten Ziele dem demokratischen Ideal entsprechen, dass sich dieses Ideal auf einen allgemeinen Konsens berufen kann und dass es somit nicht weiter hinterfragt werden muss. Die theoretische Perspektive, die eingenommen wird, ist diejenige der klassischen Demokratietheorie. Die Kontroverse zwischen Vertretern der empirischen und der normativen Demokratietheorien wird völlig ausgeblendet. Mehr Kommunikation, mehr Öffentlichkeit, mehr Partizipation, mehr Kontrolle und mehr Selbstbestimmung werden per se zum demokratischen Ziel erklärt, ohne dass dafür eine theoretische Grundlage geschaffen wird.

Darüber hinaus existiert nicht das klassische Demokratieideal. Die zunehmende Grösse und Komplexheit moderner Nationalstaaten lassen die klassischen Vorbilder fragwürdig werden und verlangen nach deren Umformulierung. Die zweihundert Jahre demokratische Erfahrung, die einen Wissensvorsprung gegenüber den Theoretikern des 18./19. Jahrhunderts bedeuten, gilt es in einer Neuformulierung des klassischen Demokratieideals zu berücksichtigen. Zudem erfolgt diese Neuformulierung innerhalb des demokratischen Ideals, so dass ihr Verhältnis zur Realität ein anderes ist, als das etwa für den Entwurf Rousseau's der Fall war. Die Anpassung des klassischen Ideals an heutige Verhältnisse, die Einbeziehung der Erfahrung und die Berücksichtigung der Tatsache, dass das Verhältnis zur Realität ein kritisches, aber auch ein reflexives ist, sind je für sich komplexe Forderungen, die das Spektrum an Möglichkeiten und an Interpretationsspielraum breit werden lassen.

All dies sind Gründe, wieso die Diskussion um die "richtige" Demokratietheorie auch heute noch geführt werden muss. Die kritische Auseinandersetzung mit den vorliegenden Theorien ist eine Notwendigkeit, wenn schliesslich nicht das Machbare, sondern das Wünschbare den Lauf der Geschichte bestimmen soll.

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2. Zur Begrifflichkeit

Grundsätzlich lassen sich zum heutigen Zeitpunkt in der Diskussion um die "richtige" Demokratietheorie zwei Perspektiven ausmachen[3]. Die Benennung dieser beiden Perspektiven ist nicht einheitlich, doch scheinen die Bezeichnungen "empirische" und "normative" Demokratietheorie am konsensfähigsten zu sein (ebenfalls gebräuchlich sind "deskriptive" und "präskriptive" Demokratietheorie). Diese Benennung ist zwar inhaltlich korrekt, sie verbirgt allerdings die Tatsache, dass vor allem zwei sich widersprechende Perspektiven dahinterstecken, die klassische Demokratietheorie und die Konkurrenztheorie der Demokratie (die letztlich die zeitgenössische Elitentheorie ist).

Nichtsdestotrotz werden die erwähnten Bezeichnungen in dieser Arbeit verwendet. Im folgenden sollen die Merkmale dieser beiden Perspektiven aufgezeigt und die gegenseitige Kritik erläutert werden.

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2.1 Empirische Demokratietheorie

Häufig wird den empirischen Demokratietheorien unterstellt, sie formulierten Normen für eine demokratische Gesellschaft aus empirischen Befunden, seien dass Untersuchungen zu Wählerverhalten, zu Partizipation oder zu Parteien. Deren demokratisches Ideal leite sich also z.B. aus den Tatsachen her, dass der Durchschnittsbürger schlecht über politische Angelegenheiten informiert ist oder dass Organisationen dem "ehernen Gesetz" der Oligarchie unterliegen. Diese "Definition" empirischer Demokratietheorien greift allerdings zu kurz. Es wird unterstellt, dass es eine kausale Beziehung zwischen empirischen Daten und demokratischem Ideal gibt, dass letzteres also aus den gemessenen Tatbeständen hergeleitet wird. Der Anspruch der meisten Autoren, die in der Tradition der empirischen Demokratietheorien stehen, ist allerdings ein anderer: "Was mich betrifft, so glaube ich keineswegs an die Heiligkeit von Daten, und ich glaube auch nicht, dass sich Ideale ihnen unterwerfen sollten; ich meine nur, wenn unsere Ideale konstruktiv sein sollen, dann müssen sie mit empirischer Verifikation in Beziehung stehen" (Sartori 1992, S. 172).

Empirische Demokratietheorien versuchen also, empirisch erfahrbare Realität und demokratische Norm in Einklang zu bringen. Wirklichkeit soll systematisch-empirisch erfasst werden und die sich daraus ergebenden Konsequenzen sollen in eine Demokratietheorie konstruktiv einfliessen. Wird z.B. festgestellt, dass der Durchschnittsbürger über ein zu geringes politisches Wissen verfügt, um kompetent am politischen Geschehen mitwirken zu können, kann daraus geschlossen werden, dass eine Volksherrschaft im klassischen Sinne gar nicht realisierbar ist, dass es deshalb zur Führung der Staatsgeschäfte einer Auswahl von Bürgern bedarf, die über die Fähigkeiten verfügen, die dem Durchschnittsbürger offensichtlich fehlen.

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2.2 Normative Demokratietheorie

Die Unterscheidung zwischen empirischen und normativen Demokratietheorien impliziert nicht, dass empirische Demokratietheorien nur empirisch und normative nur normativ sind. Die Unterscheidung widerspiegelt mehr das Vorgehen, dass diesen beiden Richtungen immanent ist. Das empirische Vorgehen besteht darin, wie oben beschrieben, die Wirklichkeit systematisch-empirisch zu erfassen und das demokratische Ideal entsprechend "realistisch" zu gestalten, ein Vorgehen, das letzten Endes auch zu Normen führt (oder führen sollte). Das normative Vorgehen dagegen besteht darin, die Anforderungen an das politische System aus religiösen, anthropologischen oder ethischen Überlegungen herzuleiten, unabhängig von erfahrbaren Realitäten. Natürlich werden diese Anforderungen in der Regel "unrealistisch" und wird die Realität gemessen am Ideal eine höchst unvollkommene sein. Die Diskrepanz zwischen Norm und Realität wird aber weniger als beim empirischen Vorgehen zu einer Anpassung der Norm führen, da die Rolle des Demokratieideals stärker als eine kritische verstanden wird und deshalb in ihrer Form erhalten werden muss. Wird z.B. festgestellt, dass die treibenden Kräfte der politischen Willensbildung aktive Minderheiten sind und die grosse Mehrheit der Bürger kaum oder gar nicht partizipiert, so ist dies noch kein Grund, die Prämissen zu verwerfen, sondern "zu fragen, worauf die Tatsache der Begrenzung politischer Aktivität auf Minderheiten zurückgeht" (Lenk, in: Lieber 1991, S. 954), was etwa zu der Antwort führen könnte, dass der Bürger durch die bestehenden Herrschaftsverhältnisse entmündigt wird, dass das Desinteresse von den Eliten gefördert wird, begünstigt durch die mediale Berieselung und die Saturierung durch ökonomische Güter, so dass das Bedürfnis nach Veränderung gar nicht erst aufkommt und die Privilegien der Führenden nicht gefährdet werden.

Natürlich existieren die Normen nicht völlig losgelöst von realen Tatbeständen. So hat auch Rousseau das Mehrheitsprinzip in grösseren sozialen Gebilden anerkannt, obwohl der allgemeine Wille durch Einstimmigkeit sicherlich besser widerspiegelt wird, d.h. obwohl das Mehrheitsprinzip einstimmigen Entscheiden aus wertrationaler Sicht unterlegen ist. Und so ist auch die regelmässig stattfindende Volksversammlung nach dem Vorbild der attischen Polis oder der Stadtversammlung Neu-Englands für grössere soziale Gebilde selbst mit Unterstützung moderner Kommunikationsmittel nur mehr eine Utopie.

Der Behauptung, dass die Unterscheidung zwischen empirischen und normativen Demokratietheorien nur gradueller Art ist, muss hier widersprochen werden. Wenngleich die beiden Vorgehensweisen sich nicht prinzipiell ausschliessen und auf es durchaus Bemühungen gibt, einen Mittelweg zu finden, so kann dennoch eine klare Zweiteilung der Theorien nicht abgestritten werden. Die Unterscheidung zwischen klassischer Demokratietheorie und Konkurrenztheorie der Demokratie ist deshalb weniger irreführend, denn sie suggeriert nicht das Vorhandensein einer stetigen Skala zwischen rein empirisch und rein normativ.

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2.3 Kritik

Den normativen Demokratietheorien wird vorgeworfen, Realitäten zu ignorieren. Durch die abstrakte Formulierung von politischen Zielen, die ideengeschichtlich meist auf den Vorstellungen eines Rousseau oder Tocqueville basieren, und die fraglos dem Vorbild des antiken Athens nachempfunden sind, würden harten Fakten schlicht und einfach keine Beachtung geschenkt. Die einseitige Fixierung auf die demokratischen Ideale und die stoische Ignorierung von realen Entwicklungen, wie z.B. die zahlenmässige Vergrösserung vom Stadtstaat zum Hundertmillionenstaat, führten zu einem Perfektionismus, der der Demokratie mehr schaden denn nützen, oder um es mit Hölderlin auszudrücken: "Beim Himmel! der weiss nicht, was er sündigt, der den Staat zur Sittenschule machen will. Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, dass ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte" (Hölderlin, zit. nach Sartori 1992, S. 65).

Den empirischen Demokratietheorien wiederum wird vorgeworfen, sie würden allzu leicht zu Wirklichkeitsbeschreibungen. Durch die Tendenz, empirische Befunde zu verwenden, um die Möglichkeiten einer Demokratie abzustecken, würden sie schliesslich zu nichts anderem als zum Modell des Status quo degenerieren und somit bestehende Herrschaftsstrukturen legitimieren und verfestigen. Die Annahme, dass bestimmte Zustände unveränderbar (z.B. das Desinteresse der Wähler) und gewisse Entwicklungen unvermeidbar sind (z.B. die Oligarchisierung von Organisationen), führten dazu, dass jegliche Ideale, insbesondere das klassische Demokratieideal, als unrealistisch abgetan werden. Übersteigerter Realismus und die Berufung auf "eherne" Gesetze führten zu einer ideenlosen und kritiklosen Haltung gegenüber dem Status quo und zur Ablehnung von Veränderungen, weil diese die Stabilität und die Funktionstüchtigkeit des politischen Systems bedrohten.

[Inhalt]


3. Empirische Demokratietheorie

3.1 Demokratie als Methode

Der Prototyp der empirischen Demokratietheorien, bei dem sich die Normabstinenz, um nicht zu sagen Normaversion, am deutlichsten zeigt, und der Vorbild ist für alle weiteren empirischen Demokratietheorien, wie der Polyarchie, der Elitenherrschaft und nicht zuletzt der ökonomischen Theorie der Demokratie, ist der Entwurf Schumpeters. Er definiert Demokratie als eine Methode, als "diejenige Ordnung der Institutionen zur Erreichung politischer Entscheidungen, bei welcher einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels eines Konkurrenzkampfs um die Stimmen des Volkes erwerben" (Schumpeter 1993, S. 428). Demokratie ist für Schumpeter also nicht ein Ideal, dass all die Errungenschaften der letzten beiden Jahrhunderte wie Freiheit (Gewissens-, Meinungs-, Rede-, Pressefreiheit), Gleichheit (politische Gleichheit, Rechtsgleichheit) oder Menschenrechte beinhaltet, sondern "eine politische Methode, das heisst: eine gewisse Art institutioneller Ordnung, um zu politischen - legislativen und administrativen - Entscheiden zu gelangen" (a.a.O., S. 384). Demokratie als Methode kann also, und darin zeigt sich das nichtnormative dieser Theorie, kein Ziel an sich sein[4].

Schumpeter vergleicht seine Definition mit der klassischen Definition, die davon ausgeht, dass das Volk die Souveränität inne hat und dieser durch Wahl von Repräsentanten, die im Sinne des Volkes zu regieren haben, Ausdruck verleiht. Der Unterschied besteht darin, dass Wahlen nicht mehr Mittel zur Erreichung der Souveränität des Volkes sind, sondern den Zweck haben, eine Regierung hervorzubringen und somit das Zustandekommen von politischen Entscheiden garantiert ist. Nicht die Souveränität des Volkes, sondern die Erreichung politischer Entscheide ist also das eigentliche Ziel. Deshalb wendet sich Schumpeter auch gegen die Beteiligung der Bürger an der Politik über die Wahlen hinaus: "Die Wähler (Ö) müssen die Arbeitsteilung zwischen ihnen selbst und den von ihnen gewählten Politikern respektieren. Sie (Ö) müssen einsehen, dass wenn sie einmal jemanden gewählt haben, die politische Tätigkeit seine Sache ist und nicht die ihre" (a.a.O., S. 468).

Schumpeter attestiert seiner Definition in Bezug auf die Wahrscheinlichkeit der Prämissen und der Haltbarkeit der Behauptungen eine Verbesserung der Theorie des demokratischen Prozesses im Vergleich zur klassischen Demokratietheorie. Er versucht dies in den folgenden sieben Punkten darzulegen:

1. Sie ist im Gegensatz zur klassischen Definition ein brauchbares Kriterium, um demokratische von anderen Regierungsformen zu unterscheiden. In der Tat ergeben sich beim Gebrauch der klassischen Definition der Volksherrschaft Schwierigkeiten. So ist es z.B. kein leichtes, westliche Demokratien und kommunistische Regierungsformen mit Bezug auf klassische Normen klar voneinander zu trennen, nehmen doch kommunistische Regierungen für sich in Anspruch, im Gegensatz zu den westlichen Demokratien wahre Volksherrschaften zu sein, weil nicht nur politische, sondern auch ökonomische Gleichheit angestrebt wird. Schumpeters Definition dagegen erlaubt durch die Beschreibung des modus procedendi (a.a.O., S. 428), dessen Vorhandensein oder Fehlen leicht festgestellt werden kann, eine relativ einfache Prüfung der Frage demokratisch oder nicht demokratisch.

2. Kollektive handeln beinahe ausschliesslich durch die Delegation der Entscheidungsgewalt an Führer. Die vertikale Dimension der Demokratie, diejenige der Hierarchie, der Führung also gehört deshalb ins Zentrum jeder Demokratietheorie. Genau dies leistet Schumpeters Theorie der Demokratie als Methode im Gegensatz zur klassischen Theorie, die diesen Aspekt schlicht und einfach ignoriert.

3. Die Betonung der Konkurrenz um die Stimmen des Volkes rückt den Aspekt der Interessensorganisation in den Vordergrund. Wie im Marktverhältnis führen die Interessen von Minderheiten (den Kunden) dazu, dass diese Interessen von politischen Führern (den Unternehmern) aufgegriffen und in politische Programme (dem Angebote) umgesetzt werden.

4. Der Vorwurf, dass Konkurrenz nicht ideal funktionieren kann, eine Erkenntnis, die nicht zuletzt den Wirtschaftswissenschaften und ihren Untersuchungen ökonomischer Märkte entspringt, ist für Schumpeter grundsätzlich richtig, nur wird "der Wert unseres Kriteriums (..) dadurch nicht ernsthaft geschädigt" (a.a.O., S. 431). Unfaire und betrügerische Konkurrenz beeinflussen zwar das Wahlverhalten, doch nicht in dem Masse, dass die Konkurrenztheorie grundsätzlich angezweifelt werden müsste.

5. Einerseits beinhaltet die Definition Schumpeters die Freiheit des Individuums, sich um politische Ämter zu bewerben, andererseits impliziert sie ein beträchtliches Mass an Diskussionsfreiheit, insbesondere an Pressefreiheit. Dies ist nach Schumpeter das einzige, was gemäss seiner Definition über das Verhältnis zwischen Demokratie und Freiheit ausgesagt werden kann. Er nimmt denn auch nicht in Anspruch, dass "seine" Methode mehr individuelle Freiheit zur Folge hat, als irgendeine andere demokratische Methode.

6. Die Aufgabe des Volkes ist in erster Linie, eine Regierung zu wählen und ihr die Entscheidungsbefugnis zu überlassen. Die Formulierung der demokratischen Methode schliesst aber auch die Absetzung der Regierung mit ein. Dadurch ist die Kontrolle der Führer einerseits durch die regelmässig stattfindenden Wahlen, andererseits aber auch durch die Möglichkeit ihrer Absetzung gegeben.

7. Und last but not least löst die demokratische Methode ein Problem der klassischen Demokratietheorie, dasjenige der Unvereinbarkeit des allgemeinen Willens, der volonté générale mit dem Majoritätsprinzip, d.h. mit dem Mehrheitswillen, der volonté de tous. Da Schumpeters Definition aber nur die Erreichung politischer Entscheide fordert, die durch das Majoritätsprinzip immer garantiert ist (im Gegensatz zum Proporzsystem), stellt sich dieses Problem für die demokratische Methode nicht.

Die Aversion gegen eine normative Definition von Demokratie zeigt sich bei Schumpeter in sehr ausgeprägter Form. Diese Aversion leitet sich aus seiner Wertfreiheit - oder präziser seiner Wertvermeidung - her. Seine Ausführungen zum Begriff des Volkes und dem der Herrschaft sind typisch für seine Argumentation. Weil diesen Begriffen so viele Bedeutungen zugewiesen werden können, in denen letztlich ein gutes Stück Beliebigkeit steckt und die schliesslich nicht mittels rationaler Instrumente gegeneinander abgewogen werden können, um ein abschliessendes Urteil darüber zu fällen (was in der Natur von Werten und Normen liegt)[5], folgt Schumpeter, dass die Reduzierung von Demokratie auf eine Methode der Sache angemessener ist, weil damit diese Probleme elegant umgangen werden können. Seine Methode ist schliesslich weniger ein Gegenentwurf zur klassischen Demokratietheorie, als eine Resignation vor den Problemen einer normativen Haltung, die sich den Instrumenten einer empirischen Wissenschaft entziehen muss. Was die Konkurrenztheorie Schumpeters also nicht leisten kann, ist eine Begründung für die Überlegenheit der Demokratie zu liefern, die durch sie beschrieben wird oder gar etwas über die Vervollkommnungsfähigkeit der Demokratie auszusagen. Was sie hingegen leisten kann, ist "der beschreibenden Theorie eine Gruppe notwendiger und hinreichender Bedingungen für das Bestehen einer politischen Demokratie" zu liefern (Sartori 1992, S. 161).

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3.2 Polyarchie

Karl Popper meinte, dass das Platonische Problem "Wer soll herrschen" (ein Diktator?, eine Elite?, das Volk?) verfehlt sei. Er schlug vor, dieses Problem zu ersetzen durch: Gibt es Regierungsformen, die aus moralischen Gründen verwerflich sind? Oder umgekehrt: Gibt es Regierungsformen, die uns erlauben, eine verwerfliche oder auch nur inkompetente Regierung, die Schaden anrichtet, loszuwerden? Daher ist die moralische Begründung einer Demokratie für Popper nicht die Antwort auf die Platonische Frage "Wer soll herrschen" (das Volk!), sondern die moralische Begründung liegt darin, dass eine Demokratie ermöglicht, verwerfliche Regierungen loszuwerden. "Demokratien sind also nicht Volksherrschaften, sondern sie sind in erster Linie gegen eine Diktatur gerüstete Institutionen. Sie erlauben keine diktaturähnliche Herrschaft, keine Akkumulation von Macht, sondern sie versuchen, die Staatsgewalt zu beschränken. Entscheidend ist, dass eine Demokratie in diesem Sinn die Möglichkeit offen hält, die Regierung ohne Blutvergiessen loswerden zu können, wenn sie ihre Rechte und Pflichten verletzt; aber auch sonst, wenn wir ihre Politik als schlecht oder verfehlt beurteilen" (Popper 1988, S. 13).

Damit trifft Popper genau den Punkt, den Dahl als das "fundamentale Problem der Politik" betrachtet: wie können Bürger verhindern, dass ihre Herrscher zu Tyrannen werden? Dahls Antwort ist: die Nicht-Führenden müssen einen relativ hohen Grad an Kontrolle über die Führenden ausüben können. Die Konstellation sozialer Prozesse, die dies ermöglicht, nennt er Polyarchie. Konkret ist Polyarchie eine Menge von Institutionen, die notwendig und hinreichend sind, um das Aufkommen von Tyrannenherrschaft zu verhindern. Polyarchie ist in dem Sinne eine Minimalvariante der klassischen Demokratie, eine Variante, die zumindest die totalitäre Utopie von Orwell in "1984" verkümmern lässt.

Dahl nennt sieben notwendige Institutionen (Dahl 1989, S. 222/233)[6]:

1. Gewählte Beamte (elected officials): Verfassungsmässig wird die Kontrolle über politische Regierungsentscheide gewählten Beamten übertragen. D.h. nichtgewählte Beamte sind gewählten Beamten bei der Festlegung der Regierungspolitik unterstellt.

2. Freie und faire Wahlen (free and fair elections): Gewählte Beamte werden in relativ häufig stattfindenden, fairen und freien Wahlen (wieder-)gewählt oder abgesetzt.

3. Umfassendes Stimmrecht (inclusive suffrage): Fast alle Erwachsenen haben das Recht zu Wählen. Ausgenommen sind geistig Behinderte und Durchreisende: "the demos must include all adult members of the association except transient and persons proved to be mentally defective" (a.a.O., S. 129).

4. Recht sich für ein Amt zu bewerben (right to run for office): Jeder, der wahlberechtigt ist, hat das Recht, sich für ein Amt zu bewerben.

5. Rede- und Pressefreiheit (freedom of expression): Bürger haben das ausdrückliche Recht, sich öffentlich zu äussern. Davon nicht ausgeschlossen ist die Möglichkeit, Kritik an Beamten, der Verwaltung sowie dem vorherrschenden politischen, ökonomischen und sozialen System zu äussern.

6. Alternative Informationsquellen (alternative information): Bürgern stehen mehrere Informationsquellen zur Verfügung, um sich über politische Vorgänge zu informieren. Diese Informationsquellen müssen unabhängig von der Regierung oder einer anderen einzelnen Interessensvereinigung sein.

7. Vereinigungsautonomie (associational autonomy): Bürger haben das Recht, Vereinigungen zu gründen, wie z.B. politische Parteien oder Interessensvertretungen, die die Regierungspolitik über Wahlen oder durch andere friedfertige und verfassungsmässige Mittel zu beeinflussen versuchen.

Die Existenz dieser Institutionen ist hinreichend, um Tyrannenherrschaft zu verhindern. Was aber garantiert, dass diese Institutionen selber stabil bleiben, dass nicht die eine oder andere zerstört und Polyarchie dadurch instabil wird? Dahl sieht fünf Bedingungen, die die Wahrscheinlichkeit beeinflussen, dass eine stabile Polyarchie entsteht: "While no single condition can account for the existence or absence of polyarchie in a country, if all the conditions (Ö) are strongly present then polyarchie is almost a sure thing; while if all of them are absent or extremely weak, the likelihood is close to zero" (a.a.O., S. 244 ff).

1. Alle Staaten üben Zwang auf die eigenen Bürger aus und drohen anderen Staaten, um einerseits Recht und Ordnung durchzusetzen und andererseits den Staat vor äusseren Bedrohungen zu schützen. Letztlich basiert dieser Zwang immer auf physischer Gewalt und somit auf dem Gewaltmonopol des Staates, dass von Polizei und Militär ausgeübt wird[7]. Um den Missbrauch dieser Macht zu verhindern, müssen Polizei und Militär durch zivile Organe kontrolliert werden und diese Organe müssen wiederum dem demokratischen Prozess unterliegen, d.h. gewählten Beamten unterstehen. Die Verteilung der Kontrolle über Polizei und Militär auf verschiedene Regierungsorgane und die Verzahnung von zivilem und militärischem Sektor, wie das z.B. in der Schweiz durch das Milizsystem geschieht, sind weitere Bedingungen zur Reduzierung der Gefahr eines "Staates im Staat", der letztlich eine Bedrohung der Demokratie bedeutet.

2. Eine moderne, dynamische und pluralistische Gesellschaft, kurz eine MDP, ist eine weitere für die Polyarchie günstige Bedingung. Modernität (grosser Wohlstand, hohes Bildungsniveau, hoher Grad an Arbeitsteilung, starke Urbanisierung), Dynamik (ökonomisches Wachstum, steigender Lebensstandard) und Pluralismus (viele, relativ autonome Gruppierungen und Organisationen, besonders in der Wirtschaft) sind erstens vorteilhaft für die Verteilung von Macht, Einfluss, Autorität und Kontrolle auf viele Individuen, Gruppierungen und Organisationen und zweitens fördern sie Haltungen und Werte, die den demokratischen Ideen nahestehen. Auch wenn Macht in einer MDP verteilt wird, ist sie natürlich nicht gleich verteilt, Elitenherrschaft ist somit in einer MDP genauso denkbar, wie in einer Gesellschaft, die die Kriterien einer MDP nicht erfüllt. Ein Beispiel der umgekehrten Art ist Indien, dass die Kriterien einer MDP zwar bei weitem nicht erfüllt, wo aber dennoch eine Polyarchie errichtet wurde, die bis heute mehr oder weniger stabil ist.

3. Subkulturen, die sich insbesondere aufgrund ethnischer, religiöser oder sprachlicher Differenzen innerhalb eines Staates bilden, können die Stabilität einer Polyarchie negativ beeinflussen, falls diesen Differenzen nicht die gebührende Aufmerksamkeit zukommt und es zu systematischer Überstimmung und Ausgrenzung kommt. Damit separatistische Tendenzen und die manchmal daraus hervorgehenden gewaltsamen Auseinandersetzungen nicht entstehen können, sieht Dahl einerseits ein System von Absprachen zwischen den Führern der einzelnen Gruppierungen vor ("consociationalism") (a.a.O., S. 256), mit dem Zweck, alle wichtigen Subkulturen ins Entscheidungssystem einzubinden, was bestenfalls in einer grossen Regierungskoalition gipfelt, andererseits muss Subkulturen ein möglichst hohes Mass an Autonomie zugestanden werden. Ersteres ist z.B. in der Schweiz, Belgien, Österreich oder den Niederlanden, letzteres in Kanada der Fall was die Provinz Quebec betrifft. Damit schneidet Dahl ein Problem an, das die Grenzen der Mehrheitsdemokratie aufzeigt und das Themen wie Minderheitenschutz, Föderalismus oder zivilen Ungehorsam beinhaltet.

4. Werte sind für Dahl mehr als nur intervenierende Variablen, die durch andere Faktoren vollständig erklärt werden können. Insbesondere sind Werte teilweise unabhängig von sozialen und ökonomischen Bedingungen. Die Legitimation, die Polyarchie und ihre Institutionen insbesondere bei der politischen Klasse geniesst, ist deshalb von grosser Bedeutung. Das Vorhandensein einer MDP (Struktur) ist nicht hinreichend, wenn demokratische Ideen und Werte (Kultur) nicht entwickelt werden und schliesslich über eine breite Basis verfügen. Als Beispiel dient die ehemalige UdSSR, in der demokratisches Gedankengut traditionell schwache Akzeptanz genoss und die Reformen von Michael Gorbatschow schon deshalb auf harten Widerstand insbesondere im Parteiapparat stossen mussten.

5. Die Möglichkeit einer Intervention durch andere Staaten muss ebenfalls ausgeschlossen werden (wie z.B. die Niederschlagung des Ungarnaufstands 1956 durch die UdSSR). Auch wenn die Intervention durch Staaten erfolgt, die selber Polyarchien sind, bedeutet das nicht zwingend, dass die Polyarchie dadurch gefördert wird (wie das die wiederholten Interventionen der USA in Zentralamerika zeigen).

Diese fünf Bedingungen sind bei Dahl die ursprünglichen Bedingungen, also diejenigen, die kausal auf nichts anderes zurückgeführt werden. Damit wird offensichtlich, dass diese Theorie eine deskriptive ist, dass dem Modell also keine Normen zugrunde liegen, aufgrund von welchen deduktiv Bedingungen für die Institution Demokratie hergeleitet werden[8]. Die Tatsache, dass Polyarchie nicht viel mehr als eine Beschreibung des Status quo ist, lässt sich insbesondere dadurch erklären, dass Dahls Entwurf geprägt war von seiner Furcht, das Erreichte zu verlieren. Verhinderung von Tyrannenherrschaft war sein vorrangiges Ziel und dieses wollte er durch die Konsolidierung des Bestehenden erreichen. So achtenswert diese Bemühungen sind, so nahe bringen sie seinen Entwurf in die Nähe der Elitenherrschaft. Obwohl seine Absichten durchaus demokratischer Natur waren und obwohl er sich selber nicht als Elitist verstanden haben will, ist Polyarchie im Endeffekt von der Elitenherrschaft zeitgenössischer Autoren wenig entfernt. Es erstaunt deshalb nicht, dass Sartori, ein erklärter Elitist, Polyarchie als Basis für seine Demokratietheorie benutzt und Dahl selber in die Linie der Autoren Mosca, Pareto, Croce und Schumpeter einreiht[9].

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3.3 Elitenherrschaft

Es stellt sich natürlich die Frage, was ein Kapitel über Elitenherrschaft in einer Arbeit über Demokratie zu suchen hat. Dahl etwa äussert sich über die Elitenherrschaft in folgender Weise: "(Ö) and because the claim of guardianship is a standard justification for hierarchical rule, as an idea guardianship is democracy's most formidable rival" (a.a.O., S. 52). In der Tat ist Elitenherrschaft mit Volksherrschaft unvereinbar, was ihre wörtliche Bedeutung anbelangt, denn das eine meint Herrschaft von Wenigen, das andere Herrschaft von Vielen. Und natürlich existieren Entwürfe von Elitenherrschaft, denen das Attribut "demokratisch" eindeutig abzusprechen ist. Dennoch darf nicht übersehen werden, dass viele Elitisten ihre Theorie als Demokratietheorie verstanden haben wollen und es tatsächlich so ist, dass westliche Demokratien dem Ideal zeitgenössischer Elitentheoretiker näher kommen als dem klassischen Ideal. So ist Sartoris Entwurf einer selektiven Polyarchie bzw. einer Verdienst-Polyarchie dem Status quo sicherlich näher als etwa das Habermassche Konzept der Öffentlichkeit.

Vilfredo Pareto (1848-1923) war Zeit seines Lebens ein Gegner von Monarchie und Aristokratie. Während sein Grossvater und sein Grossonkel im Dienste Napoleons standen (als Senator bzw. Finanzminister in den Republiken Genua bzw. Ligurien), war die nächste Generation der Familie am Kampf für eine italienische Republik beteiligt und einige Familienmitglieder mussten als Monarchiegegner ins Exil flüchten (darunter sein Vater). Diese republikanische Vergangenheit hat auch Pareto's Gesinnung massgeblich geprägt. Obwohl er und seine Familie selber zur Aristokratie gehörten, war er dieser gegenüber sehr kritisch eingestellt. Er, der soviel Bildung genossen und ein Leben lang neue Wissensgebiete erschloss hatte, war der Überzeugung, dass Eliten nicht durch Geburt zu solchen werden sollten, sondern durch ihre Leistungen. Gleichheit nach Verdienst war seine Forderung, mit der er sich sowohl von der Aristokratie als auch von Demokraten wie Rousseau abgrenzte. Diese Überzeugung ging so weit, dass er andern verbot, ihn mit dem ererbten Titel eines Marquis anzusprechen und dagegen forderte, ihn mit dem erworbenen Titel eines Professors anzureden (Powers 1987, S. 23). Sein politwissenschaftliches Interesse galt den Eliten, den Mitteln, die von diesen zur Aufrechterhaltung ihrer Führerschaft benutzt werden und den Determinanten für die Stabilität bzw. Instabilität eines Regimes. Seine Grundthese war, dass nur eine Kombination von Zwang und Kooperation als zwei Strategien der sozialen Kontrolle die Stabilität eines Regimes garantieren können. Seine Theorie der "Zirkulation von Eliten" basiert auf der Annahme, dass Eliten, einmal an der Macht, dazu tendieren, nur eine der Strategien anzuwenden und deshalb früher oder später durch neue Eliten ersetzt werden. Diese Tendenz entsteht dadurch, dass Führer entweder ihre Machtposition immer mehr zu ihren Gunsten auszunützen versuchen und deshalb immer weniger kooperieren oder dass sie unfähig werden, Gewalt anzuwenden und so die Kontrolle verlieren. Die Einseitigkeit der sozialen Kontrolle führt letztlich dazu, dass die Herrschaft nicht mehr stabil ist und ermöglicht es neuen, fähigeren Leuten, die Macht zu übernehmen. Diese Zirkulation ist wünschenswert, garantiert sie doch, dass Eliten, die der Führung der Staatsgeschäfte nicht mehr fähig sind, ihre eigene Machtposition nicht mehr halten können und durch neue, geeignetere Leute ersetzt werden.

Pareto kann kaum als Demokrat bezeichnet werden, und er selber war der Demokratie gegenüber auch insofern negativ eingestellt, als er darin die Gefahr sah, dass anstelle der gewählten Regierung sich viele mächtige Interessensgruppen die Macht teilen, dass Demokratie schliesslich zur demagogischen Plutokratie verkommt, dass politische Macht also durch Manipulation der Massen und den dazu nötigen Ressourcen erworben wird. Im Gegensatz zu Pareto setzt Sartori seine Elitenherrschaft in den Rahmen einer Demokratie, ein Unterschied, der nicht nur zwischen diesen beiden Autoren besteht, sondern der bezeichnend ist für die beiden Zeitepochen, für die diese beiden Autoren stehen. Der zentrale Unterschied in den beiden Entwürfen führt denn auch zum zentralen Problem der Elitentheorie, dem Problem der Auswahl der Eliten (bei Pareto geschieht die Auswahl durch den beschriebenen Prozess, bei Sartori durch Wahlen). Dieses Problem wird anschliessend an die Ausführungen über Sartoris Entwurf nochmals aufgegriffen und eingehender erläutert.

Das Hauptargument der Elitisten findet sich auch bei Sartori wieder: da der Durchschnittsbürger, wie so viele Erhebungen gezeigt haben, ganz offensichtlich nicht über das nötige Wissen und die nötigen Fähigkeiten verfügt, komplizierte politische Sachverhalte zu beurteilen, ist direkte Demokratie nicht nur rein technisch unmöglich, sondern auch nicht wünschenswert und deshalb muss die Führung der Staatsgeschäfte von "Politikexperten"[10] übernommen werden[11]. Führung ist darum für Sartori ein untrennbarer Bestandteil der Demokratie und seine Kritik der Mitwirkungsdemokraten ist denn auch die, dass diese die vertikale Dimension der Demokratie schlicht und einfach ignorieren[12]. Eine Demokratietheorie, die nur die horizontale Dimension zum Thema hat, verschliesst die Augen vor der Wirklichkeit, die zeigt, dass noch nie eine Demokratie ohne Führung existiert hat und seiner Meinung nach auch nie existieren wird. Es ist für eine Demokratietheorie deshalb unerlässlich, auch oder insbesondere die vertikale Dimension in die Betrachtung miteinzubeziehen. Weil es Administratoren braucht, um die Staatsgeschäfte zu führen, darf eine Demokratietheorie nicht offen lassen, wie diese ausgewählt werden, mittels Los (wie im antiken Athen), durch Selbstselektion (wie bei Pareto) oder durch Wahlen. Seine Bemühungen gehen denn auch vor allem dahin, aufbauend auf Dahls Entwurf, den er Wahl-Polyarchie[13] nennt, diesen Bereich näher zu betrachten und klarer zu definieren. Deskriptiv ist Demokratie eine Wahl-Polyarchie, präskriptiv muss Demokratie zwei Kriterien erfüllen. Erstens muss Demokratie ein selektives System konkurrierender gewählter Minderheiten, oder kurz eine selektive Polyarchie sein. Zweitens muss Demokratie eine Verdienst-Polyarchie sein, also eine Herrschaft nach Verdienst (oder Meritokratie). Ersteres soll den demokratischen Charakter des Systems sichern, letzteres die Qualität der Führung garantieren. Sartoris Eliten sind denn auch nicht in erster Linie die Herrschenden, diejenigen, die die politische Macht inne haben, wie das z.B. bei Lasswell der Fall ist, sondern, anknüpfend an Pareto, die Besten nach ihren Eigenschaften, die Fähigsten für die Führung der Staatsgeschäfte oder in der Sprache des Protestantismus "die (von Gott) Auserwählten" (Sartori 1992, S. 176). Gleichheit heisst bei Sartori nicht Chancengleichheit, die nur einen Anfangszustand bezeichnet, sondern Gleichheit nach Verdienst, Gleichheit als Endzustand, "Gleiches Gleichen, also jedem gemäss seinem Verdienst, seiner Fähigkeit, seiner Begabung" (a.a.O., S. 179).

Abschliessend soll das Problem der Auswahl nochmals aufgegriffen werden. Dieses scheint dem Autor gerade bei zeitgenössischen Elitisten wenig plausibel gelöst zu sein. Die Behauptung ist, dass sich die Elitisten entweder in einen Widerspruch verwickeln oder dass die Definition von Eliten zur Tautologie verkommt.

Elitenherrschaft wird dadurch gerechtfertigt, dass Eliten über die Fähigkeiten verfügen, die dem Normalbürger fehlen, die zur Führung der Staatsgeschäfte aber notwendig sind. Es stellt sich hier die Frage, ob die Auswahl der Eliten, konkret die regelmässig stattfindenden Wahlen, dem Bürger nicht viel höhere intellektuelle und kognitive Fähigkeiten abverlangen. Stellen alleine nur das Sammeln, das Sichten und das Bewerten von Informationen an den Bürger nicht enorme Anforderungen? Ist die Beurteilung der Politik einer Legislaturperiode, das Vergleichen der verschiedenen Alternativen und die Abschätzung der Wirksamkeit einer Politik hinsichtlich der anliegenden Problemen nicht eine viel kompliziertere Sache als die Bearbeitung einzelner Sachfragen[14]? Zeigt denn die Wahlforschung nicht, dass Bürger weder fähig sind, Sachprobleme zu beurteilen, noch über das für die Bewertung der Parteien nötige Wissen verfügen[15]? Wenn denn der Bürger nicht fähig sein soll, selber zu regieren, kann er denn fähig sein, selber zu wählen[16]?

Sartori "löst" dieses Problem durch seine Bezugsgruppentheorie der Eliten (Sartori 1992, S. 180 passim). Diese besagt, dass Gleichheit nach Verdienst, Gleichheit bezüglich elitären Wertparametern bedeutet, dass Eliten deshalb ständig auf einem Prüfstand stehen und anhand ihrer Vorzüge aneinander gemessen werden. Die elitären Wertparameter leiten sich aber letztlich aus den Vorzügen der Eliten selber her, weil die Eliten einerseits eine Bezugsgruppe darstellen, andererseits an elitären Bezugsgruppen, ergo an sich selber gemessen werden. Die Auswahl der Eliten geschieht so gesehen also durch die Eliten selber, es sei denn die elitären Wertparameter würden explizit definiert und somit zum modellexogenen Massstab. Solange diese Definition aber ausbleibt, sind Eliten bei Sartori Eliten, weil sie Eliten sind.

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3.4 Ökonomische Theorie der Demokratie

Der homo politicus ist der politische Modellmensch der Neuen Politischen Ökonomie (NPÖ), auch ökonomische Theorie der Politik (engl. Public Choice) genannt (Frey 1993, S. 26), der analog zum homo oeconomicus entworfen wurde, um politisches Verhalten erklären zu können. Wie sein bekannter "Bruder", ist der homo politicus ein rational denkender und handelnder Mensch, der, wenn er vor Alternativen gestellt wird, immer imstande ist eine Entscheidung gemäss seinen Präferenzen zu treffen und ceteris paribus immer die gleiche Entscheidung treffen wird. Die Handlungen sind insofern rational, als der homo politicus mit dem geringsten möglichen Aufwand an knappen Mitteln je Einheit des Wertertrags ein Ziel zu verwirklichen, d.h. mit minimalem Input einen bestimmten Output zu erreichen sucht (oder einen maximalem Output bei gegebenem Input) (Downs 1968, S. 291).

Die ökonomische Theorie der Politik basiert auf der Annahme des methodologischen Individualismus, d.h. dass politisches Verhalten, egal auf welcher Organisationsstufe, schlussendlich auf das Verhalten der einzelnen Individuen, als da sind Wähler, Regierungsmitglieder, Parlamentarier, Chefbeamte usw., zurückgeführt werden kann. Nicht alle Theorien führen diesen Ansatz allerdings konsequent zu Ende, denn sie gehen, wie Downs, nicht nur von rational handelnden Individuen, sondern auch von rational handelnden Parteien, Interessensverbänden und Regierungen aus. Bekanntlich folgt aus dem rationalen Handeln der Individuen aber nicht zwingend Rationalität auf kollektiver Ebene, wie dies das Gefangenendilemma zeigt[17]. Nichtsdestotrotz ist die Annahme der meisten ökonomischen Theorien der Politik, dass die erwähnten kollektiven Akteure ebenso rational handeln, wie das Individuum.

Analog zum Modell der Marktwirtschaft wird ein Modell der Demokratie propagiert. Anbieter sind die Parteien, Nachfrager die Wähler und angeboten bzw. nachgefragt werden politische Programme. Bezahlt wird natürlich nicht in barer Münze, sondern mit Wählerstimmen, d.h. nicht pekuniäre Gewinn- sondern Stimmenmaximierung ist angesagt. Für den Wähler geht es darum, die Partei zu wählen, "die ihm persönlich für die kommende Legislaturperiode am meisten Nutzen einzubringen verspricht" (Downs 1968, S. 37), für die Parteien darum, "eine möglichst grosse Zahl von Wählerstimmen zu erhalten" (Frey 1993, S. 28). Die Maximierung des individuellen Nutzens der Wähler wird also über den Konkurrenzkampf der politischen Parteien um die Stimmen des Volkes erreicht und impliziert gleichzeitig die Maximierung des gesamtgesellschaftlichen Nutzens als dem "grössten Glück der grössten Zahl".

Die ökonomische Theorie der Demokratie ist in erster Linie eine Theorie, die das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft über das Verhalten der Individuen erklären soll. Der Vorteil einer solchen Theorie ist insbesondere der, dass auf ein Wissen und ein (mathematisches) Instrumentarium zurückgegriffen werden kann, das in den Wirtschaftswissenschaften entwickelt und perfektioniert wurde. Die Eleganz und Geschlossenheit marktwirtschaftlicher Modelle kann so mühelos auf das demokratische Modell übertragen werden. Marktmodelle dienen aber nicht nur der Erklärung von Mechanismen des ökonomischen und im vorliegenden Fall des politischen Systems, in ihnen steckt auch der oft vernachlässigte Aspekt der Legitimation, der sich aus den Prämissen des liberalen Denkens ergibt. Die Souveränität des Bürgers leitet sich im liberalen Denken aus der vorstaatlichen Existenz des Menschen und seinen ihm inhärenten natürlichen Gesetzlichkeiten ab. Da im Menschen naturgesetzliche Prinzipien angelegt sind, dürfen die Menschen nicht in ihrem Wirken eingeschränkt werden, d.h. ihre Freiheit ist oberstes Gebot und nur insofern nicht absolut, als die Freiheit anderer ebenfalls gesichert sein muss. Der Staat hat also nur eine Existenzberechtigung, weil er die Freiheit des Einzelnen sichern muss und soll sich ansonsten weitgehend aus der Gesellschaft zurückziehen, um nicht die natürlichen Gesetze im Wirken der Menschen zu behindern. Das praktische Selbstverständnis des Liberalismus drückt sich insbesondere im Recht auf persönliches Eigentum, insbesondere auf "Privateigentum an den Produktionsmitteln" aus (Neumann 1987, S. 13). Schon Thomas Hobbes begriff die Gesellschaft als "Eigentumsmarktgesellschaft", in der es "nichts anderes als Marktbeziehungen zwischen freien Individuen" gab (a.a.O., S. 28). Die Beste aller Gesellschaften ist bei Hobbes also die, "in der alle Beziehungen zwischen Einzelpersonen in Marktverhältnisse umgewandelt werden" (Macpherson, C.B.: Marktwirtschaftliche Begriffe in der politischen Theorie, in: Grube 1975, S. 156).

Wie festgestellt wurde, können die Erkenntnisse der Wirtschaftswissenschaft aufgrund der analogen Modellbildung auf den Politikbereich übertragen werden. Hans Albert folgert konsequenterweise, dass auch Erkenntnisse der politwissenschaftlichen Forschung auf den Bereich der Wirtschaft ausgedehnt werden. Er geht deshalb dazu über, die Ideologie des Marktes, die Souveränität des Konsumenten, das politische Gegenstück der Souveränität des Staatsbürgers, zu entlarven, indem er die politwissenschaftlichen Erkenntnisse auf den Bereich der Wirtschaft überträgt[18]. Beide Varianten der Demokratieideologie, die politische und die ökonomische, dienen gemäss Albert dazu, die Souveränität des Bürgers in Form der freien Führer- und Konsumwahl nach dem Prinzip der Majorität der Stimmen und der Kaufkraft vorzugaukeln. Er kommt zum Schluss, dass die Prozesse der staatlichen und wirtschaftlichen Willensbildung niemals mehr als die Beschränkung des Spielraums der Machthaber, der Politiker und der Unternehmer, sein kann: "die Aussage, dass ªdie Massen nicht regieren, wohl aber die Regierung kontrollieren und ihre Macht beschränken' können, trifft ebenso auf den staatlichen, wie auf den kommerziellen Sektor der Gesellschaft zu" (Albert, Hans: Souveränität und Entscheidung, in: Grube 1975, S. 159).

Wenn das Marktmodell Ausfluss des liberalen Denkens ist und in diesem Sinne die Souveränität des Bürgers garantieren soll, wenn diese Souveränität aber nur eine scheinbare ist, dann dienen Marktmodelle der Verschleierung dieses Tatbestandes, d.h. der Legitimierung bestehender Herrschaftsstrukturen. Diese Kritik ist nicht neu und war wichtigster Ansatzpunkt für die Entwicklung sozialistischer Ideen und Bewegungen (Klima, Rolf: Liberalismus, in: Fuchs-Heinritz, Werner u.a.: Lexikon zur Soziologie, 3. Aufl., Opladen 1994, S. 403). Die Übertragung des Marktmodells auf den Politikbereich könnte sich also letztlich als Bumerang erweisen, denn nicht nur das Anwendungsgebiet der Markttheorie, sondern auch die Kritik an ihr verdoppelt sich. Einerseits richten sich nun nicht mehr nur politische, sondern auch ursprünglich ökonomische Argumente gegen das herrschende politische System. Andererseits erwächst den marktwirtschaftlichen Modellen nun auch Kritik von Seiten der Politikwissenschaften, Kritik, die ursprünglich dem politischen System vorbehalten war.

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4. Normative Demokratietheorie

Demokratie als Volksherrschaft wird von der athenischen Demokratie faktisch und von Rousseau theoretisch in besonders reiner Form illustriert und bei allen Neu- und Umformulierungen der Demokratie spielt die Bedeutung des Begriffs in diesem Sinne eine Rolle, sei es als feindliches Ideal, dass es zu entkräften, sei es als hehres Vorbild, das es auf diese oder jene Weise zu erneuern gilt. Dem Entwurf Rousseau's steht derjenige Schumpeters gegenüber, dem klassischen Partizipationsmodell das Konkurrenzmodell. Mit der Einführung der demokratischen Methode vollzog Schumpeter eine Wende vom utopischen, zukunfsbezogenen Projekt zu einem affirmativen Legitimationsmechanismus, zu einem Treuhandmodell, bei dem Politiker vom Volk die Vollmacht zur Führung des Staates erhalten. Zwischen diesem "realistischen" Demokratieverständnis, das nicht nur in Schumpeters Modell zum Ausdruck kommt, sondern auch in den meisten heutigen Staatsrechtslehren, und der parlamentarischen Repräsentation besteht eine Affinität, um nicht zu sagen eine weitgehende Übereinstimmung[19]. Mit dem Hinweis auf die Undurchführbarkeit des klassischen Demokratieideals wurden westliche Demokratien weitgehend im Sinne Schumpeters angelegt, beschnitten um den Gedanken der Selbstverwirklichung durch Selbstbestimmung und Partizipation, reduziert auf die periodische Akklamation der Bevölkerungsmehrheit zu Parteien, gezähmt durch Gewaltenteilung, Minderheitenschutz und weiteren Einrichtungen, die die Selbstzerstörung der Demokratie verhindern sollen. Dies jedenfalls ist die Kritik der Vertreter des klassischen Demokratieverständnisses an dem "illusionslosen", "realistischen" Konzept der Konkurrenzdemokratie.

Zum besseren Verständnis dieser Kritik und um den anschliessenden Ausführungen eine Basis zu geben, werden die klassischen Demokratieideale, einerseits die athenische Demokratie des 5. und 4. Jh. v. Chr., andererseits der radikal demokratische Entwurf Rousseau's, im folgenden näher erläutert.

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4.1 Die Athenische Demokratie

Weil die Vorläuferin aller Demokratien, die antike Demokratie Athens des 5. und 4. Jh. v. Chr.[20], im Diskurs über die "wahre" Demokratie insbesondere für die Vertreter klassischer Demokratieideale eine so wichtige Rolle spielt und die Meinungen sowohl was ihre tatsächliche Funktionsfähigkeit als auch was ihre Übertragbarkeit auf heutige Verhältnisse anbelangt so weit auseinanderklaffen, soll ihre Funktionsweise hier beschrieben werden.

Es ist klar, dass im Rahmen dieser Arbeit ein Phänomen, dass fast zwei Jahrhunderte dauerte, nicht gebührend detailliert behandelt werden kann und dass vieles historisch unpräzis erscheinen muss. Da es an dieser Stelle aber nicht um die historische Rekonstruktion der athenischen Demokratie geht, sondern um die Verdeutlichung ihrer Funktionsweise, sollen nicht historische "Details" im Vordergrund stehen, über die in Historikerkreisen teilweise noch gestritten wird[21]. Man mag dem Autor deshalb die in den folgenden Ausführungen enthaltenen Verallgemeinerungen und Ungenauigkeiten nachsehen[22].

4.1.1 Dêmoi

Die eigentliche Geburtsstunde der athenischen Demokratie wird auf das Jahr 508/507 v. Chr.[23] Festgelegt (Popper 1988, S. 8). In diesem Jahr teilte Cleisthenes die polis von Athen, d.h. die Stadt Athen und das umliegende Land Attica, in 139 dêmoi. Diese dêmoi unterschieden sich in Grösse und Zusammensetzung erheblich voneinander, was sich auch in der Anzahl Sitze widerspiegelt, die sie im boulê, dem Rat der Fünfhundert, hatten. Einige der dêmoi stellten gerade mal einen Abgeordneten, andere dagegen mehr als zehn. Weiter teilte Cleisthenes Athen in die drei Teile Küste, Land und Stadt. Jeder dieser drei Teile bestand aus zehn trittyes, die sich wiederum aus einem oder mehreren dêmoi zusammensetzten. Je ein trittyes aus den drei Teilen bildeten zusammen ein phylai. Ein phylai bestand also aus drei trittyes, einer aus dem Küstengebiet, einer aus dem Landesinnern und einer aus der Stadt. Die Rolle der Aufteilung in phylai und trittyes dürfte im wesentlichen darin bestanden haben, die Durchmischung der boulê sicherzustellen, denn jeder der zehn phylai stellte ein Zehntel der Mitglieder des boulê, so dass die Angehörigen von Küste, Land und Stadt in dieser gut repräsentierte waren.

Die dêmoi waren die grundlegenden Verwaltungseinheiten und die Zugehörigkeit zu einer dêmoi war denn auch das wichtigste Kriterium, um als Bürger zu gelten und sowohl wählen, als auch kandidieren zu können[24]. Die Beamten einer dêmoi wurden geprüft und mussten über dem Amt angemessene Fähigkeiten verfügen. Der höchste Beamte war der dêmarchos, der alle Jahre wechselte und der die Versammlung der dêmoi präsidierte, die je nach dêmoi unterschiedlich oft stattfand. Die Versammlungen der dêmoi waren sozusagen die Miniausführung der ecclêsia, die im folgenden beschrieben wird und die als das Herz der athenischen Demokratie gilt.

4.1.2 Ecclêsia

Die ecclêsia war die Versammlung der athenischen Bevölkerung, an der über politische Fragen diskutiert und darüber abgestimmt wurde. Die prytaneis, der aus 50 Angehörigen bestehende und zehnmal pro Jahr wechselnde Ausschuss der boulê, berief sie ein und setzte auch deren Agenda fest. Im frühen 4. Jh. wurden vierzig Versammlungen pro Jahr einberufen, wobei jede vierte eine Hauptversammlung war (kyria ekklêsia), an der besonders wichtige Staatsfragen, wie Nahrungsversorgung oder Verteidigung und Sicherheit behandelt wurden.

Zu diesen wichtigen Angelegenheiten gehörten die Verbannungen. Diese konnten ausgesprochen werden, wenn mindestens 6'000 Stimmen abgegeben wurden. Verbannt wurde derjenige mit den meisten Stimmen, woraufhin er den Boden Athens zehn Jahre lang nicht mehr betreten durfte. In der Zwischenzeit war es ihm aber erlaubt, seinen Boden weiterhin bewirtschaften zu lassen und den daraus entstehenden Gewinn nach eigenem Gutdünken zu verwenden. Stockton vermutet, dass diese Institution vorwiegend benutzt wurde, um einen Entscheid zwischen rivalisierenden Politikern herbeizuführen oder aber um zu mächtige Politiker in die Schranken zu verweisen.

Die Versammlungen fanden fast ausschliesslich auf dem Pnyx statt, einem im Herzen der Stadt Athen, neben der Agora (Marktplatz) und am Fusse der Akropolis liegenden Platz, der anfänglich 6'000 und später dann beinahe das doppelte an Leuten fasste, die im übrigen für ihre Teilnahme finanziell entschädigt wurden. Abgestimmt wurde normalerweise mit Handzeichen, nur in speziellen Fällen wurden Abstimmungsmarken benutzt, z.B. um ein Quorum sicherzustellen oder um geheime Abstimmungen zu ermöglichen (bei Gerichtsverfahren).

Die ecclêsia war das Herzstück der klassischen Demokratie, die alle wichtigen politischen Entscheide (und auch viele unwichtigere) fällte. Kriegserklärungen, Verträge, Bauvorhaben, die Wahl von nicht durchs Los bestimmten Staatsbeamten, Steuern, neue Gesetze, das Absetzen von Beamten usw. gehörten in den Entscheidungsbereich der ecclêsia. Eingeschränkt wurde die Souveränität der ecclêsia und somit des Volkes erst im 4. Jh. durch die Einführung des Nomothesieverfahrens, auf das später eingegangen wird.

4.1.3 Boulê

Je fünfzig Abgeordnete aus den zehn phylai bildeten zusammen den beinahe täglich tagenden boulê. Die Abgeordneten wurden jedes Jahr neu durch Los bestimmt und durften nie zweimal nacheinander dem boulê angehören, später überhaupt nur noch einmal. Die Hauptaufgabe des boulê war es, die ecclêsia vorzubereiten, d.h. zu entscheiden, welche Anträge behandelt werden sollen, diese mittels eines öffentlichen Aushangs rechtzeitig bekannt zu machen, gegebenenfalls Vorschläge auszuarbeiten und last but not least die ecclêsia zu leiten, wobei das Präsidium jeweils durch Los bestimmt wurde. Darüber hinaus hatte dieses Gremium Kontrollfunktionen inne. Es kontrollierte die Umsetzung von Beschlüssen der ecclêsia, die Arbeit von Beamten, die staatlichen Finanzen und wurde schliesslich auch für diverse Spezialaufgaben aufgeboten, wie die Organisation der athenischen Flotte.

Die Macht des boulê bestand vor allem darin, dass er alleine Anträge vor die ecclêsia bringen konnte, seien das eigene Anträge oder die der "normalen" Bürger. Kein Beschluss konnte also ohne das Mitwirken eines Abgeordneten des boulê vor die Volksversammlung gelangen. Die vielen zusätzlichen Aufgaben, die dem boulê übertragen wurden, rechtfertigen es, diesen Rat als ein sehr mächtiges Organ einzustufen. Die Tatsache, dass er jährlich durch Los neu bestimmt wurde, verhinderte allerdings, dass einzelne Politiker durch ihre Tätigkeit in der boulê zu viel Macht und Einfluss gelangen konnten.

4.1.4 Dikastêria

Gerichte spielten in Athen eine enorme Rolle, was auch die Zahl der Geschworenen von 6'000 verdeutlicht, die jährlich neu ausgelost wurden, immerhin etwa ein Sechstel aller Bürger Athens. Die Geschworenen, die gleichzeitig auch als Richter fungierten und als diese die Verhandlung leiteten, waren keine Fachleute sondern ganz "normale" Bürger ohne spezielle Ausbildung.

Die Unterscheidung zwischen Zivil- und Strafgerichtsbarkeit war in Athen nicht die gleiche, wie in heutigen Rechtssystemen. Es wurde zwischen Fällen unterschieden, die nur von den betroffenen Parteien eingeklagt werden konnten (dikai) und solchen, die öffentliche Angelegenheiten betrafen (graphai). Die dikai waren Delikte wie Diebstahl und Mord. Je nach Deliktsumme wurden sie von verschieden grossen Gerichten beurteilt (201 oder 401 Geschworene), wobei Friedensrichter (diaitêtês) Fälle schlichten konnten (jeder sechzigjährige Athener musste als diaitêtês zur Verfügung stehen). Die graphai waren Fälle wie Steuerhinterziehung oder Veruntreuung. Jeder Bürger hatte das Recht als Kläger aufzutreten und erhielt, falls er Recht bekam, eine entsprechende Entschädigung. Um den Missbrauch dieses Rechts zu verhindern, wurde der Kläger bestraft, wenn nicht mindestens 1/5 der Geschworenen in seinem Sinne stimmten. Graphai wurden je nach Wichtigkeit von 201 bis zu mehr als Tausend Geschworenen beurteilt. Sehr schwere Vergehen gegen das öffentliche Interesse (Verrat, subversive Tätigkeit usw.) konnten von Anklägern an die boulê gerichtet werden und gelangten auf diesem Weg schliesslich vor die ecclêsia.

Der dikastêria kam im 4. Jh. zusätzlich die Aufgabe zu, Gesetzesvorschläge zu prüfen und über ihre "Rechtmässigkeit" zu entscheiden, wenn gegen sie in der ecclêsia Einspruch erhoben worden war, weil sie z.B. gegen bestehende Gesetze zu verstossen schienen. In diesem Jahrhundert wurde die Souveränität der ecclêsia auch insofern beschnitten, als wichtige Gesetze (nomoi) nicht mehr direkt angenommen werden konnten, sondern zuerst von den nomothetai, die sich aus der dikastêria rekrutierte, im sogenannten Nomothesieverfahren auf ihre "Verfassungsmässigkeit" geprüft werden mussten.

4.1.5 Staatsbeamte

Beamte wurden entweder durch Los oder Wahlen bestimmt, je nachdem ob die ihnen anvertrauten Aufgaben nach Meinung der Athener spezieller Fähigkeiten bedurften oder nicht. Diejenigen Beamtenstellen, die verlost wurden und die von jedem Athener besetzt werden konnten, durften nie zweimal vom gleichen Bürger übernommen werden. Von den gewählten Beamten sind besonders diejenigen erwähnenswert, denen militärische Aufgaben übertragen wurden. Es gab Befehlshaber für die Regimente der zehn phylai, für die Kavallerie und speziell die zehn stratêgoi, denen die Führung der athenischen Streitkräfte, der Armee und der Flotte, anvertraut wurde. Mussten die stratêgoi anfänglich noch je aus verschiedenen phylai stammen, konnten sie später durchaus dem gleichen phylai angehören. Nicht nur dies, sondern auch die Tatsache, dass die stratêgoi mehrmals gewählt werden konnten, zeigt, dass die Athener nicht gewillt waren, ihre militärische Führung zu schwächen, um demokratischen Prinzipien genüge zu tun. Andere Stellen, die nicht zufällig vergeben werden konnten, waren diejenigen von Gesandten, Architekten, Schatzmeistern oder solche, die mit religiösen Aufgaben verbunden waren. Diese Abweichungen vom Prinzip der Gleichheit, dem das Auslosen am ehesten gerecht wird, beeinflussten das diesem Prinzip zugrundeliegende demokratische Ideal allerdings nur wenig. Immerhin wurden alle diese Beamten von der ecclêsia gewählt, meistens besetzen mehrere Männern zusammen eine Stelle, schliesslich wurde ihre Arbeit regelmässig von der boulê geprüft und sie konnten von jedem Bürger für begangene Verfehlungen eingeklagt werden.

4.1.6 Beurteilung der athenischen Demokratie

Vertreter des New Public Management würden die athenische Demokratie wohl als Musterbeispiel einer missratenen Verwaltung anführen. In der Tat war das athenische Verwaltungssystem enorm ineffizient, unprofessionell, schwerfällig und zeitraubend. Selbständigkeit wurde den Beamten nur in sehr geringem Masse zugestanden und ihre Arbeit unterlag der dauernden Kontrolle von dazu bestimmten Organen bzw. auch derjenigen des Volkes durch die Möglichkeit, jeden Beamten wegen Verfehlungen anklagen zu können. Professionalität wurde dadurch verhindert, dass die meisten Beamtenstellen verlost, regelmässig - meistens jedes Jahr - neu besetzt wurden und darüber hinaus häufig im "Job-Sharing" gearbeitet wurde.

Andererseits war das athenische System konsequent auf das Prinzip der politischen Gleichheit ausgerichtet. Demokratie bedeutete im antiken Athen die breite Abstützung der Politik im Volk, die Verteilung der Macht und der Verantwortung auf alle Bürger, die Verhinderung von Interessensvertretung, von pressure-groups, von Machtakkumulation. Die Kontrolle der legislativen, exekutiven und judikativen Staatsorgane war eine viel direktere als sie es heute ist. Nicht nur dass alle wichtigen Entscheide in allen drei Bereichen vom Volk direkt getroffen wurden, auch alle übrigen politischen Entscheide standen falls gewünscht zur Disposition. Die Möglichkeit der wirksamen Partizipation, z.B. durch das Kundtun seiner Meinung an öffentlichen Versammlungen oder dem Einbringen von Gesetzesvorschlägen und die Involvierung sämtlicher Bürger in Staatsaufgaben führten zu einer starken Identifikation der Bürger mit dem Staat. Was heute vielen als schreckliche Utopie erscheint, die "total aktivierte Öffentlichkeit" (Dahrendorf, Ralf: Aktive und passive Öffentlichkeit, in: Grube 1977, S. 77), war in Athen Alltag. Nicht nur dass beinahe jeder Bürger ein- oder mehrmals ein öffentliches Amt inne hatte, er hatte auch die Möglichkeit, die politischen Geschicke des Staates durch seine aktive Teilnahme an den Versammlungen zu beeinflussen. Versammlungen von mehreren Tausend Teilnehmern waren in Athen durchaus an der Tagesordnung und die Leute nahmen teilweise Anreisewege von mehreren Stunden in Kauf, um ihre Rechte als Bürger in Anspruch zu nehmen[25].

So schön das eben gesagte tönen mag, die Schattenseiten der athenischen Demokratie sollen nicht verschwiegen werden. So war die Geschichte Athens des 5. und 4. Jh. geprägt von kriegerischen Auseinandersetzungen, von Schlachten, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, von Unterjochung und Versklavung. Auch wenn viele Ereignisse, wie der peloponnesische Krieg oder die Auseinandersetzung mit Sparta, die zum vorläufigen Zusammenbruch der athenischen Demokratie führte, nicht alleine den Athenern angerechnet werden können, so sind andere auf unmenschliche und unentschuldbare Beschlüsse der Mehrheit der Bevölkerung Athens zurückzuführen, wie etwa die Vernichtung der Inselstadt Melos, bei der alle Männer getötet und alle Frauen und Kinder als Sklaven verkauft wurden (Popper 1988, S. 9). Abgesehen von diesen Verfehlungen im aussenpolitischen Bereich hatte das System aber auch innenpolitische Mängel. So war die Demokratie Athens, wie schon erwähnt, beschränkt auf einen kleinen Teil der Bevölkerung. Nicht nur Kinder, geistig Behinderte und "Ausländer" waren ausgeschlossen, sondern auch Frauen und Sklaven, wobei letztere den Grossteil der Bevölkerung ausmachten. Schlimmer noch, die athenische Demokratie war in der Form nur funktionsfähig, weil fast ausschliesslich wohlhabende Männer das Bürgerrecht besassen. Nur dadurch, dass die profane Erwerbsarbeit fast vollständig von Sklaven verrichtet wurde, konnten sich die Besitzenden der Politik im geforderten Masse widmen. Vermögen war Voraussetzung, um Politik betreiben zu können und zwar nicht nur, um das Bürgerrecht zu erlangen, sondern auch um bestimmte Ämter bekleiden zu können. Weil viele Beamtenstellen nicht bezahlt wurden, war der Zugang zu diesen - teilweise auch formal - nur den wohlhabenderen Bürgern offen[26].

Es ist also nicht nur die Grösse, die die athenische Demokratie von heutigen Demokratien unterscheidet, es ist insbesondere ihre Exklusivität. Ohne die Zweiteilung in erwerbstätige Sklaven und politiktreibende Bürger wäre die athenische Demokratie nicht funktionstüchtig gewesen. Die Bindung des Bürgerrechts an Eigentum ist heute undenkbar und wer ein Demokratiemodell nach athenischem Vorbild entwirft, wird mit dem Problem konfrontiert, das sich ergibt, wenn Erwerbsarbeit und politische Mitwirkung unter einen Hut gebracht werden sollen.

[Inhalt]

4.2 Rousseau - le contrat social

Rousseau's Gesellschaftsvertrag ist nicht einfach ein Entwurf in der Tradition von Hobbes, Locke, Rousseau und Kant, um nur die wichtigsten zu nennen: "(Ö) Rousseau came to be seen not only as a contract theorist but also as the prophet of popular sovereignty, as the patron of a modern Leviathan that had swept all before it" [Hervorhebung vom Autor] (Jennings, Jeremy: Rousseau, social contract and the modern Leviathan, in: Boucher 1994, S. 115). Sein Entwurf ist mehr als der Versuch, die natürliche Freiheit des Einzelnen in bürgerliche Freiheit zu überführen, d.h. Individuum und Staat miteinander zu versöhnen. Sein Entwurf ist eine vollständige Absage an das ancien régime, der Entwurf einer radikal demokratischen Gesellschaft und als solcher nicht nur Vorbild für die Ideen der französischen Revolution, sondern auch heute noch Ideenquelle für die Erneuerung des klassischen Demokratiebegriffs.

Für Rousseau musste das Ziel einer Gesellschaftsform darin bestehen, die Freiheit des Menschen zu erhalten. Der Zustand, in dem jeder nur sich selbst gehorcht und sich keinem anderen unterwerfen muss, ist der Zustand der natürlichen Freiheit und als solcher für den einzelnen Menschen der bestmögliche Zustand. Die natürliche Freiheit, die keine anderen Grenzen kennt als die Kräfte des Individuums, geht der Gesellschaft und somit dem Staat voraus, ist also der Urzustand, aus dem alle Gesellschaftsformen hervorgehen. Die Vergesellschaftung des Menschen hat zur Folge, dass die natürliche Freiheit aufgegeben werden muss und je nach Art der entstehenden Gesellschaft durch verschiedene Formen der Unterordnung ersetzt wird. Der einzelne gibt durch den Vertrag, den er mit der Gesellschaft eingehen muss, zwar seine natürliche Freiheit auf, erhält dafür aber die bürgerliche oder politische Freiheit, die sich von der natürlichen Freiheit letztlich nur dadurch unterscheidet, dass nicht die individuellen Kräfte sie begrenzen, sondern die "volonté générale", der allgemeine Wille. Dieser ist jener "Komplex von Verhaltensdispositionen (Ö), der sowohl jedes Individuum in seiner Eigenschaft als Mitglied eines Gemeinwesens als auch die Mehrheit der Bürger eines Gemeinwesens insgesamt veranlasst, beim Denken und Handeln das Gemeinwohl und den Fortbestand des Gemeinwesens den egoistischen Privatinteressen voranzustellen" (Hegner, Friedhart: volonté générale, in: Fuchs-Heinritz, Werner u.a.: Lexikon zur Soziologie, 3. Aufl., Opladen 1994, S. 727).

Rousseau's Kritik am vorherrschenden System bestand nun allerdings nicht darin, dass die privaten Interessen und individuellen Rechte von der Souveränität einer übergeordneten Instanz eingeschränkt wurden. Einerseits war für die Monarchisten damals klar, dass die Monarchie nicht Selbstzweck sein konnte und dass der Herrscher im Interesse des Gemeinwohls zu regieren hatte. Andererseits stellte Rousseau auch nicht die individuelle Freiheit über die Bedürfnisse der Gesellschaft. Seine Kritik bestand vielmehr darin, dass die Souveränität in falschen Händen lag. Nicht "l'état c'est moi" war Anstoss seiner Kritik, sondern dass der Souverän handelte als gelte "l'état c'est [daggerdbl] moi" (Jennings, Jeremy: Rousseau, social contract and the modern Leviathan, in: Boucher 1994, S. 116). Nach Rousseau konnte der allgemeine Wille nicht von einem einzelnen vertreten werden, sondern nur durch die Gesamtheit aller Bürger. Die absolute Herrschaft des Königs musste also ersetzt werden durch die absolute Herrschaft des Volkes, denn nur letztere bietet Gewähr, dass die "volonté générale" zum Ausdruck gebracht werden kann. Hierauf gründet sich Rousseau's Entwurf eines radikal demokratischen Gesellschaftssystem.

Die Volkssouveränität bei Rousseau ist eine absolute, wie die Souveränität des Sonnenkönigs im ancien régime. Um die Freiheit und das gleiche Recht aller vor der Gewalt der Mächtigen zu schützen, muss das Volk ständiges Staatsoberhaupt sein und seine unteilbare Staatshoheit als Gesetzgeber ausüben. Der Staat als vollziehende Gewalt ist nur ein Werkzeug der gesetzgebenden Kraft und dient dem Vollzug der Gesetze sowie der Aufrechterhaltung der bürgerlichen Freiheit. Ausdrücklich lehnt Rousseau die Vertretung des Volkes in der Gesetzgebung ab: "da das Gesetz lediglich die Erklärung des allgemeinen Willens ist, kann das Volk in der gesetzgebenden Gewalt nicht vertreten werden" (Rousseau, Jean-Jacques: Contrat Social II, S. 15, zit. nach Neusüss: Demokratie: Theorien und politische Praxis, in: Neumann 1987, S. 114). Konkret heisst das, dass das Volk jedes Gesetz billigen muss, in den meisten Fällen in schweigender Form, manchmal aber auch in einer Volksabstimmung. Aus der Totalität der Volksherrschaft leitet sich auch deren Unteilbarkeit ab. Damit steht Rousseau's Entwurf im Widerspruch zu den liberalen Ideen eines Locke und Montesquieu, deren Gewaltenteilungslehre er ablehnt, da sie aus dem Staatsoberhaupt ein zusammengestückeltes Wesen machen, so als könne man den Menschen aus mehreren Körpern zusammensetzen. Der Staat muss gemäss Rousseau aber als organisches Ganzes verstanden werden, in dessen Handeln sich die "volonté générale" widerspiegelt. Damit der Wille allgemein ist, reicht es nach Rousseau, dass eine Mehrheit einverstanden ist, wobei diese um so qualifizierter sein muss, je wichtiger die Sache ist. Alleine der Gesellschaftsvertrag selber verlangt nach Einstimmigkeit, denn nur so kann die bedingungslose Unterwerfung des Einzelnen unter den allgemeinen Willen rechtens werden.

Die Loslösung von jeglicher Form der Tyrannei, das Recht aller, von niemandem ausser sich selbst beherrscht zu werden, verlangt konsequenterweise auch die Auflösung aller ökonomischen Ungleichheiten, denn sie stellen eine Beherrschung des ökonomisch Schwachen durch den ökonomisch Starken dar. Da der allgemeine Wille aber umfassend ist, ist Demokratie nach der Vorstellung Rousseau's nicht an eine bestimmte Wirtschaftsstruktur gebunden. Solange dem allgemeinen Willen entsprochen wird, sind also sowohl kapitalistische als auch sozialistische Wirtschaftsstrukturen denkbar und keine von beiden Formen ist mit Demokratie enger verbunden als die andere. Ungleich Marx vertrat Rousseau aber nicht eine radikale Position, was die Gleichheit des Eigentums anbelangt. Eigentum muss nicht gleich verteilt sein oder gar gänzlich fehlen, Eigentum darf sich nur nicht in der Gewalt des einen gegenüber dem anderen ausdrücken. Alleine die Kraft der Gesetzes darf sich letztlich in der Gewalt gegen den Einzelnen manifestieren. Von den Wohlhabenden war lediglich Mässigung des Vermögens und Ansehens, von den übrigen Mässigung des Geizes und der Habgier verlangt. Dieser moralische Appell lässt deutlich werden, dass die Trennung der politischen von der ökonomischen Verfügungsgewalt, die realiter schon vollzogen war, von Rousseau zwar erkannt, in seiner Theorie aber noch nicht gebührend berücksichtigt worden war[27].

Die Absolutheit der Volkssouveränität ist natürlich nicht unproblematisch, denn sie führt dazu, dass Menschen nur noch über die ihnen von der Gemeinschaft zugewiesenen Rechte verfügen, dass Menschenrechte nicht über dem Gemeinwillen stehen und es somit z.B. auch kein natürliches Recht auf Leben gibt. Unterdrückung und Despotismus als demokratisch legitimierte Erscheinungen können nicht ausgeschlossen werden, was die Schreckensherrschaft der Jakobiner nach der französischen Revolution eindrücklich zu belegen scheint. Dieses Problem wurde damals erkannt und es gab einige Vorschläge, wie es zu lösen sei. So meinte etwa Pierre Leroux, dass Demokratie erst verwirklichbar sei, wenn Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sich als Religion, als gemeinsamer Glaube etabliert habe. Joseph de Maistre seinerseits glaubte, dass die Souveränität nicht im Menschen, sondern in Gott zu finden sei und dass der Mensch gemäss dem Willen Gottes dazu bestimmt sei, in Gesellschaft zu leben und somit auch dazu befähigt sein müsse. Nichtsdestotrotz bleibt der Vorwurf gegenüber Rousseau bestehen, dass individuelle Rechte mit der Absolutheit der Volkssouveränität nicht vereinbar sind und dass dies zur erwähnten Unterdrückung von individuellen Interessen führen kann, sollten diese dem Gemeinwillen widersprechen.

[Inhalt]

4.3 Die Erneuerung des klassischen Demokratiebegriffs

Für die Vertreter des klassischen Demokratieideals, denen der Entwurf Rousseau's als Vorbild dient, steht - sehr verkürzt gesagt - die Selbstverwirklichung des Individuums, die für den Einzelnen maximales Glück bedeutet, im Vordergrund. Selbstverwirklichung verlangt nach grösstmöglicher Freiheit, nach Selbstbestimmung und somit nach Aufhebung von Herrschaft. Selbstbestimmung meint schliesslich die "Partizipation aller Bürger am diskutant aufzuhellenden politischen Entscheidungsprozess" (Euchner, Walter: Demokratietheoretische Aspekte der politischen Ideengeschichte, in: ders.: Egoismus und Gemeinwohl, Frankfurt/M. 1971, S. 18). Die Beteiligung der Bürger an der Politik dient nicht nur der Verhinderung unzulässiger politischer Herrschaft, sondern konstituiert Volksherrschaft, d.h. ist conditio sine qua non der Selbstbestimmung und im Moment ihrer Verwirklichung mit ihr identisch.

Im Zentrum der Kritik am Status quo steht aber nicht nur die mangelhafte Realisierung der Selbstregierung des Volkes innerhalb des politischen Systems, sondern auch die Begrenzung der Souveränität auf eben dieses System. Selbstbestimmung verkommt nicht nur angesichts der realen politischen Machtverhältnisse zur Farce, sondern auch in Anbetracht der Tatsache, dass viele Entscheide, die das Leben des Einzelnen massgeblich beeinflussen, gar nicht zur Disposition stehen. Wie aber kann Selbstbestimmung Wirklichkeit werden, wenn im wichtigsten Lebensbereich, dem der wirtschaftlichen Produktion, nach wie vor Herrschaft und Unterordnung existiert? Wie kann sich das Individuum an verantwortungsbewusstes Entscheiden und an Selbstregierung gewöhnen, wenn ihm dies bei der Arbeit versagt bleibt? Die Ausweitung des Entscheidungsbereichs, in dem die Postulate der klassischen Demokratietheorie Anwendung finden, die Aufhebung der Trennung von politischer Herrschaft und scheinbar privater Reproduktionswirtschaft ist somit der zweite, vielleicht wichtigere Anspruch, den die Vertreter der klassischen Idee an eine demokratische Gesellschaft haben: "Wichtig ist vielmehr, feste Voraussetzungen zu schaffen, dass eine grosse Mehrheit, wenn nicht alle Bürger, an der Entscheidung jener sozialen Fragen mitwirken können, die ihr persönliches Leben - bei der Arbeit, in der Ortsgemeinde und in der Nation - unmittelbar betreffen (Ö). Aus dieser Sicht ergibt sich erstens, dass unablässig nach der Möglichkeit gesucht werden sollte, den Rahmen der Selbstverwaltung auszuweiten, besonders im Bereich der wirtschaftlichen Produktion (Ö). Und zweitens, dass alles was eine volle Beteiligung freiwilliger Vereinigungen an der Regierung verhindert (Ö) in irgendeiner Weise überwunden werden sollte" (Bottomore 1969, S. 130).

Bis hierhin sind sich die Vertreter des klassischen Demokratieideals einig: Partizipation und Aufhebung der Beschränkung der Selbstregierung auf ein enges Politikfeld als vorrangige, mittelbare Ziele einer Demokratieerneuerung. Die vorgelegten Demokratietheorien sind aber "in erster Linie als ªkritische Theorie' zu begreifen. Selbstbestimmung und Aufhebung von Herrschaft werden nicht sogleich zu operationalen Strukturmodellen verdichtet, sondern sie werden zunächst als kritische Massstäbe eingeführt, die das wissenschaftliche und politische Interesse auf die Aufdeckung unnötiger Herrschaft und unausgeschöpfter Partizipationschancen hinlenken sollen" (Scharpf 1970, S. 55). So erstaunt es nicht, dass sich die meisten Autoren ausschliesslich dem Offenlegen der Unzulänglichkeit der demokratischen Wirklichkeit gemessen an klassischen, demokratischen Normen widmen und einerseits der Kritik von "realistischen" Theoretikern mit Gegenkritik auf normativer Ebene begegnen, andererseits aber keine konkreten Antworten auf die Problemen der Umsetzung ihrer Entwürfe geben wollen (oder können?).

Wenn denn trotzdem der Versuch unternommen wird, den Forderungen konkrete Vorschläge folgen zu lassen, dann zeigt sich bald einmal, dass die normativen Demokratietheorien in der Tat nicht viel mehr sind als kritische Theorien und dass das Potential an Partizipationschancen nicht so gross ist, wie man aus der Schärfe der Kritik folgern könnte. Exemplarisch sei hier der Entwurf von Scharpf erwähnt. Scharpf kommt bei der Betrachtung der Partizipation in der Demokratie zum Schluss, dass sich die Teilnahme der Bürger auf kleine Teilbereiche des Politikfeldes beschränken muss. Er folgert dies aus der Tatsache, dass auch in der Oberschicht nur eine Minderheit politisch aktiv ist, Klassenschranken politische Apathie also nur zum Teil erklären können, dass also andere Faktoren ebenfalls eine Rolle spielen:

1. Die Diskrepanz zwischen der Zahl und Komplexität politischer Entscheidungen und der Informationsaufnahme- und -verarbeitungskapazität des einzelnen Bürgers.

2. Die Konkurrenz des politischen Interesses mit anderen relevanten Individualinteressen.

Er kommt zum Schluss: "unter dem Aspekt individueller Selbstbestimmung erscheint darum die politische Partizipation keineswegs als eine besonders viel versprechende Chance der aktiven Gestaltung konkreter Lebensbedingungen (Ö) und es ist notwendigerweise eine Frage der höchst individuellen Kosten-Nutzen-Analyse, welche Faktoren in einer gegebenen Situation als unveränderlich hingenommen und welche durch kollektiv-politisches oder durch privates Engagement verändert werden sollen" (a.a.O., S. 61 f). Es spricht somit alles gegen die Realisierbarkeit von Modellen, die politische Entscheidungen auch nur näherungsweise auf die gleiche Mitwirkung aller Bürger zurückführen wollen. Die politische Beteiligung von Bürgern ist keineswegs selbstverständlich und empirisch ist das politische Engagement der Minderheit wohl eher erklärungsbedürftig als die politische Apathie der Mehrheit.

Aus der Untauglichkeit der politischen Beteiligung aller Bürger am zentralen Entscheidungsprozess folgert Scharpf allerdings keineswegs die Aufgabe des Partizipationsprinzips für die normative Demokratietheorie. Vielmehr geht er dazu über, die möglichen Anwendungsbereiche differenzierter zu bestimmen und findet drei Ansatzpunkte, um Partizipation und somit Selbstbestimmung weiter auszubauen:

1. Aus der Tatsache, dass sich politische Beteiligung in aller Regel auf die Teilnahme an Wahlen beschränkt, folgert er, dass das Gewicht der Wahlentscheidung im politischen Prozess erhöht werden muss. Dies bedeutet einerseits, dass eine Ebene oberhalb bestehender pluralistischer Strukturen geschaffen werden muss, die weitgehend unabhängig von organisierten Interessengruppen Entscheidungen treffen kann und andererseits, dass "die Politik auf dieser Ebene gerade auf jene Bedürfnisse, Interesse, Probleme und Konflikte reagieren kann, die innerhalb der pluralistischen Entscheidungsstrukturen nicht ausreichend berücksichtigt werden" (a.a.O., S. 75). Dies ist einerseits durch die Schaffung einer Konkurrenzdemokratie, in der zwei Parteien um die Gunst der Wähler konkurrieren und in der die Parteienbindung der Wähler gering, d.h. die potentielle Wählerfluktuation hoch ist, andererseits durch die Institutionalisierung einer systematischen Problemsuche auf der zentralen politischen Ebene zur Auffindung politisch nicht artikulierter oder artikulierbarer Bedürfnisse, Interessen und Konflikte zu erreichen.

2. Wenn in der Gesellschaft Bereiche vorhanden sind, in denen das Postulat universeller Partizipation näherungsweise realisierbar erscheint, dann kommt es darauf an, dass solche Chancen soweit wie möglich ausgeschöpft werden. "Voraussetzung dafür ist sicherlich eine Ausdehnung des Begriffs des ªPolitischen' weit über den staatlichen Bereich hinaus auf alle sozialen Beziehungen, in denen Herrschaft ausgeübt wird" (a.a.O., S. 68). Die Chancen der direkten Partizipation - insbesondere am Arbeitsplatz - sind aber nicht nur unter dem Aspekt der Selbstentfaltung sondern auch bezüglich ihrer Rückwirkungen auf die politische Kultur von zentralem Interesse. Wie bei Dahl schon erwähnt, hängt die Legitimation und dadurch auch die Stabilität einer Demokratie von den Einstellungen und Werthaltungen der Bevölkerung ab[28]. Wenn politische Einstellungen durch soziale Lernprozesse vermittelt und verändert werden können, dann ist es von entscheidender Bedeutung, ob am Arbeitsplatz autoritäre Strukturen vorherrschen oder ob die Chance besteht, an Entscheidungsprozessen teilzunehmen und so demokratische Verhaltensweisen und politische Fähigkeiten auszubilden.

3. Last but not least fordert Scharpf, dass die Chance zur Beteiligung prinzipiell allen, die fähig und bereit sind, sich aktiv zu engagieren, in der gleichen Weise zugänglich gemacht werden muss. Die Fähigkeiten, die durch die Beteiligung am Arbeitsplatz erworben werden, sind sicher günstig im Hinblick auf die Aufhebung der Diskriminierung der Unterschicht im pluralistischen System, die in Bezug auf ihre Möglichkeiten der politischen Beteiligung besteht. Die Einübung politischer Verhaltensweisen und die Erwerbung politischer Fähigkeiten dienen der Verbreiterung der Rekrutierungsbasis des pluralistischen Eliten-Systems und sollen die bessere Vertretung von Unterschichten im politischen Entscheidungssystem fördern. Damit werden andere Partizipationsvorteile der Oberschicht - sozialer Status, Bildungsniveau, materielle Sicherheit, freiere Verfügung über die eigene Zeit - keineswegs aufgehoben. Es spricht allerdings einiges dafür, dass durch die erwähnten "Vorteile" eine politische Karriere für die Betroffenen durchaus auch weniger attraktiv werden kann (a.a.O., S. 73).

Im wesentlichen besteht die Erneuerung der Demokratie bei Scharpf aus der Forderung nach Mitbestimmung in bislang "privaten" Bereichen, insbesondere im Bereich der wirtschaftlichen Produktion. Diese Mitbestimmung ist einerseits Selbstzweck andererseits aber auch Mittel zur Einübung politischer "skills" und fördert somit die Aufhebung von Zugangsschranken zur politischen Klasse. Weitergehende Forderungen zur Überwindung von Herrschaft, wie etwa die Abschaffung des Eigentums, sind fast vollständig aus der aktuellen politischen Diskussion verschwunden.

Erstaunen mag, dass weder Scharpf noch die meisten anderen Autoren direktdemokratische Institutionen für das politische System fordern. Die Idee einer repräsentativen Demokratie scheint sich so sehr etabliert zu haben, dass direktdemokratische Staatsformen nur noch als exotische Einzelerscheinungen erwähnt werden. Dabei ist der Autor der Überzeugung, dass der Widerstand gegenüber direktdemokratischen Institutionen kleiner wäre, als gegenüber der Demokratisierung von Unternehmen, dass erstere gerade deshalb leichter zu implementieren wären. Und sicherlich stellen diese Institutionen bezüglich Selbstbestimmung eine wesentliche Verbesserung dar, wenn nicht nur missliebige Gesetze verhindert werden, sondern Bürger auch ohne Umweg über ihre Repräsentanten als Gesetzgeber tätig werden können.

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5. Zusammenfassung

Momentan sind zwei Hauptströmungen im Diskurs über die "wahre" Demokratie auszumachen, einerseits die empirischen, andererseits die normativen Demokratietheorien.

Die empirischen Demokratietheorien verzichten weitgehend auf eine Ableitung der Erfordernisse für eine Demokratie aus der klassischen Sozialphilosophie und der älteren Staatsrechtslehre. Sie versuchen erfahrbare Realitäten mit dem demokratischen Ideal in Einklang zu bringen. Insbesondere die Wahlforschung liefert das "Material", dass in die empirischen Theorien einfliesst. Die Erkenntnis der Empiriker ist insbesondere die, dass der Normalbürger weder über das Interesse, das Können und Wissen, noch über die Zeit verfügt, um die Staatsgeschäfte zu führen und/oder um beim Gesetzesentwurf mitzuwirken, wie das in Athen des 5./4. Jh. v. Chr. der Fall war. Die politische Apathie der Mehrheit ist somit eine logische Folge und darüber hinaus sogar wünschenswert, denn "entgegen der naiven Vermutung (..), dass hohe politische Teilnahme ein Zeichen 'gesunder', also gefestigter Verhältnisse wäre, zeigt die vergleichende Forschung, dass sie entweder politische Störungen oder politischen Zwang signalisiert" (Dahrendorf, Ralf: Aktive und passive Öffentlichkeit, in: Grube 1977, S. 77). Zur Führung des Staates bedarf es deshalb einer politischen Klasse, die über die entsprechenden Fähigkeiten verfügen und auf die sich die politische Macht innerhalb des pluralistischen Eliten-Systems verteilt, was eine zu grosse Machtkonzentration verhindern und die Gefahr von Tyrannei bannen soll. Die schrittweise Anpassung der klassischen Normen an erfahrbare Realitäten führt letztlich zum demokratischen Modell Schumpeters, der Demokratie - in aller Konsequenz - als "diejenige Ordnung der Institutionen zur Erreichung politischer Entscheidungen, bei welcher einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels eines Konkurrenzkampfs um die Stimmen des Volkes erwerben" (Schumpeter 1993, S. 428) definiert. Die Leistung der empirischen Demokratietheorien besteht vor allem darin, notwendige und hinreichende Bedingungen für das Bestehen aktueller Demokratien zu liefern und so etwas zu über die Stabilitätsbedingungen auszusagen. Was sie nicht leisten können, ist die Überlegenheit einer Demokratie im Vergleich zu anderen Staatssystemen normativ zu begründen oder gar künftige Entwicklungswege aufzuzeigen.

Die normativen Demokratietheorien leiten die Erfordernisse für eine Demokratie aus dem Postulat einer möglichst umfassenden Selbstbestimmung des Individuums her. Nicht Systemerhaltung ist primäre Zielvariable der normativen Theorien, sondern die Maximierung der individuellen Freiheit. Die Abstreifung von Fremdbestimmung, die Aufhebung von Herrschaft impliziert die Teilnahme der betroffenen Individuen an - zumindest den politischen - Entscheidungsprozessen. Beim radikal demokratischen Modell wird Demokratie zwar im etymologischen Sinn als Volksherrschaft, als Regierung des Volkes, durch das Volk, für des Volkes verstanden, doch sind die zeitgenössischen Entwürfe schon ein ganzes Stück vom radikalen Vorbild Rousseau abgerückt. Die Forderungen, die im 18. und 19. Jh. noch gestellt wurden, können in Anbetracht der Tatsache, dass das aktuelle Modell soviel Erfolg hat, kaum mehr Anhänger finden. Zweihundert Jahre demokratische Praxis haben die Ecken der normativen Theorien abgeschliffen. Übrig geblieben sind relativ harmlose Forderungen, die aber immer noch zu weit gehen, als das ihre Verwirklichung in greifbare Nähe rücken würde.

Was den Ideen der Erneuerer fehlt ist weniger die Realitätsnähe, als vielmehr das revolutionäre oder zumindest das reformistische Potential. Das Hauptproblem einer Erneuerung der Demokratie besteht gegenwärtig darin, Kräfte in Bewegung zu setzen, die eine Selbstbestimmung überhaupt wollen. Durch die Integration des revolutionären Potentials der Arbeiter im Laufe dieses Jahrhunderts, durch die Beteiligung der unteren Schichten am Fortschritt, durch die allgemeine Anhebung des Lebensstandards[29] und durch die Entschärfung sozialer Ungleichheit im Sozialstaat fehlt es im Moment am Protestpotential, das nötig wäre, um mehr Selbstbestimmung durchsetzen zu können. Schlimmer noch: unter dem Diktat der auf Gewinnmaximierung und Effizienzsteigerung fixierten Wirtschaft sind heute sogar Rückschritte zu verzeichnen. Mit der Angst im Nacken, die materiellen Errungenschaften dieses Jahrhunderts wieder zu verlieren, werden den ökonomischen "Notwendigkeiten" auch noch die ideellen Errungenschaften geopfert. Zwar ist latente Unzufriedenheit durchaus vorhanden, die sich in Anbetracht der Tatsache, dass das politische System unfähig ist, die ökonomischen Probleme zu meistern, auch in politische Deprivation umschlagen kann. Um aus diesem latenten Mobilisierungspotential allerdings ein Protestpotential aufbauen zu können, bedürfte es eines Entwurfs, der den Weg über das Wissenschaftssystem hinaus ins politische System findet und der mehr ist als ein Rekurs auf historische Standards.

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Fussnotenverzeichnis

[1] Wobei dieser Diskurs nur in letzter Konsequenz normativ ist. Gerade die empirischen Demokratietheorien nehmen für sich in Anspruch in erster Linie empirisch und erst in zweiter Linie normativ zu sein. Schlussendlich kommen aber auch normative Demokratietheorien nicht ohne Bezug auf die Realität aus.

[2] Andere Autoren gehen so weit, zu behaupten: "The Internet is, by far, the greatest and most significant achievement in the history of mankind. What? Am I saying that the Internet is more impressive than the pyramids? More beautiful than Michelangelo's David? More important to mankind than the wondrous inventions of the industrial revolution? Yes, yes and yes" (Hahn und Stout, 1994, zit. nach Falk 1995).

[3] Nicht in die Betrachtung einbezogen werden Demokratietheorien marxistischer Prägung.

[4] Natürlich kann auch eine Methode zum Ziel erklärt werden.

[5] Das Stimmrecht verdeutlicht die Beliebigkeit, die hinter dem Begriff des Volkes steckt. In jeder Demokratie wurden und werden Menschen vom Stimmrecht ausgenommen. Die Kriterien, die zum Ausschluss führen sind nach Schumpeter aber keine rationalen, sondern letzten Endes solche der Wertung.

[6] Dahl hat diverse Versuche zur Beschreibung dieser Institutionen unternommen. Die vorliegende Aufzählung stammt aus einem der neueren Werke und dürfte deshalb den aktuellen Stand seines Entwurf widerspiegeln.

[7] Hier ist die löbliche Ausnahme Costa Rica zu erwähnen, dass seit 1949 auf eine Armee vollständig und freiwillig verzichtet (im Gegensatz zu Deutschland und Japan der Nachkriegszeit).

[8] Immerhin vergleicht Dahl die Demokratie mit einigen Gegenentwürfen wie der Elitenherrschaft oder dem Anarchismus auch auf sozialphilosophischer Ebene und kommt natürlich zum Schluss, dass Demokratie diesen überlegen ist. Die Verbindung zwischen seinen bemerkenswerten Überlegungen über Gleichheit, Autonomie, Beteiligung und dem vorgestellten Entwurf bleibt er dem Leser allerdings schuldig.

[9] Man würde Dahl allerdings unrecht tun, ihn als verkappten Elitisten zu bezeichnen. In neueren Werken geht er jedenfalls dazu über, die potentiellen Möglichkeiten künftiger Demokratien aufzuzeigen und seinen Entwurf im Sinne der klassischen Demokratietheorie weiterzuentwickeln.

[10] Sartori argumentiert, dass es, wie in jedem anderen Fachgebiet, auch in der Politik Experten braucht,. Sowenig der Durchschnittsbürger vom Brückenbau versteht sowenig versteht er von komplizierten politischen Zusammenhängen. Es braucht deshalb nicht nur Ingenieure, die fähig sind, Brücken zu bauen, sondern es braucht auch Politexperten, die fähig sind, die Staatsgeschäfte zu führen.

[11] Das "eherne" Gesetz der Oligarchie tut ein übriges, dass Führung schliesslich unvermeidbar ist. Robert Michels stellte in seinen Untersuchungen von Parteien fest, dass auch in demokratisch angelegten Organisationen zwangsweise eine Oligarchisierung stattfindet. Das "eherne" Gesetz der Oligarchie war und ist denn immer noch ein gewichtiges Argument der Elitisten: "Die Bildung von Oligarchien im Schosse der mannigfaltigen Formen der Demokratien ist eine organische, also eine Tendenz, der jede Organisation, auch die sozialistische, selbst die libertäre, notwendigerweise unterliegt" (Michels 1970, S. 370 f).

[12] "(...) ihre [Antielitisten und neue Linke] Botschaft und Heilmittel bestehen schlicht und einfach darin, zur horizontalen Politik zurückzukehren und sie zu erweitern. Mir dagegen scheint, dass damit die vertikale Konstruktion gelassen wird, wie sie ist, und nur immer dysfunktionaler gemacht werden kann" (Sartori 1992, S. 175).

[13] Sartori ist sich durchaus bewusst, dass Wahl-Polyarchie eine Verdopplung des Begriffs Polyarchie bedeutet, wenn er im Sinne Dahls benutzt wird, denn nach diesem sind Wahlen per se Bestandteil von Polyarchie. Da Polyarchie allerdings semantisch als Gegensatz zu Oligarchie zu sehen ist, Herrschaft von Vielen gegenüber Herrschaft von Wenigen, korrigiert Sartori die Begriffswahl von Dahl und betont damit mit Absicht den Konkurrenzcharakter des Systems (Konkurrenzkampf durch Wahlen um die Stimmen des Volkes).

[14] Man denke nur an die Wirtschaftspolitik. Kaum jemand kennt die volkswirtschaftlichen Modelle, die den Behauptungen der verschiedenen Wirtschaftsexperten zugrunde liegen. Wie aber soll der Durchschnittsbürger die Vorschläge bezüglich Verminderung der Arbeitslosigkeit und der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit oder gar die Folgen eines Wirtschaftbündnisses beurteilen können, insbesondere als ja auch in Expertenkreisen fundamentale Differenzen bestehen, was das zu favorisierende Wirtschaftsmodell anbelangt?

[15] "Der gewöhnliche Wähler, durch die Komplexität der modernen politischen Probleme verwirrt, unfähig, genau zu entscheiden, welches die Konsequenzen alternativer Handlungsprogramme sind, weit entfernt vom Zentrum der Ereignisse und unfähig, Informationen bestimmten Prinzipien zuzuordnen, wählt genauso wie die ihm vertrauten Leute seiner Umgebung" (Berelson, Bernard, Paul Lazarsfeld und William McPhee: Demokratische Praxis und demokratische Theorie, in: Grube 1975, S. 97).

[16] Popper scheint diesbezüglich anderer Meinung zu sein: "Wenn auch nur wenige von uns imstande sind, eine Politik zu entwerfen oder durchzuführen, so sind wir doch alle imstande, eine Politik zu beurteilen" (Perikles, zit. nach Popper 1988, S. 16 passim). Die Ergebnisse der Wahlforschung scheinen ihn in diesem Punkt allerdings zu widerlegen.

[17] Dieses besteht darin, dass zwei Individuen je zwischen zwei Alternativen A und B wählen können. Den maximalen Gewinn erzielen sie zusammen, wenn beide A wählen, den maximalen Verlust, wenn beide B wählen. Da der einzelne seinen eigenen Gewinn aber noch steigern kann, wenn er B und der andere A wählt, werden schliesslich beide B, und somit die für beide schlechteste Variante wählen.

[18] Die Argumentation soll hier nicht näher erläutert werden. Sie besteht im wesentlichen aus der Zusammentragung theoretischer Überlegungen und empirischer Erkenntnisse, wie z.B. die Überlegungen Moscas zur Willensübertragung oder die Erkenntnisse Michels über die Oligarchisierung von Organisationen.

[19] C. Wright Mill etwa stellte in den fünfziger Jahren in seiner Analyse der amerikanischen Herrschaftsstrukturen fest, dass eine dreiteilige Elitenkoalition (Inhaber von Spitzenpositionen in Grossunternehmen, in der politischen Exekutive und im Militär) die entscheidenden Machtpositionen inne haben, dass diese Positionen sehr stark miteinander verflochten sind und dass eine Konvergenz ihrer Interessen stattgefunden hat, so dass schliesslich vom geforderten Pluralismus, der die Machtkontrolle und -verteilung fördern soll, wenig übriggeblieben ist. (Lenk, in: Lieber 1991, S. 955 ff).

[20] Obwohl sich die Historiker auch hierüber nicht einig sind. So schreibt etwa Hornblower: "The history of European democracy begins, arguably, not in Athens but in Sparta" (Hornblower, in: Dunn 1992, S. 1).

[21] So herrscht z.B. keine Einigkeit über den Zeitpunkt der Einführung von Verbannungen: "Whether ostracism was a Cleisthenic innovation, or introduced only some twenty years later, is hotly disputed" (Stockton 1990, S. 34).

[22] Die folgenden Ausführungen basieren, wenn nicht anders vermerkt, auf der Arbeit von David Stockton.

[23] Alle Jahreszahlen sind im folgenden v. Chr. zu verstehen.

[24] Stockton schätzt die Anzahl wahlberechtigter Männer auf etwa 30'000-40'000 und die Anzahl Sklaven auf mindestens 100'000. Andere Quellen gehen von bis zu 400'000 Sklaven aus.

[25] Attica war immerhin etwa viermal so gross wie Glarus, der grösste Schweizer Kanton, in dem bis vor kurzem ebenfalls Volksversammlungen - die sogenannten Landsgemeinden - stattfanden. Darüber hinaus waren die Verkehrsmittel damals natürlich viel langsamer, als sie es heute sind.

[26] Es gab vier verschiedene "Einkommensklassen", die pentakosimedimnoi, die hippeis, die zeugites und die thetes. Einige Beamtenstellen konnten nur von Angehörigen der reicheren Klassen besetzt werden.

[27] Robespierre war diesbezüglich im Vergleich zu seinem Vorbild konsequenter, als er den Verfassungsentwurf von 1793 kritisierte: "Ihr habt die Artikel vermehrt, um dem Recht auf Eigentum möglichst grosse Freiheit zu geben und ihr habt kein Wort hinzugefügt, um dieses Recht auch zu begrenzen, so dass eure Erklärungen der Menschenrechte den Eindruck erwecken können, sie seien nicht für die Armen, sondern für die Reichen, für die Spekulanten, für die Börsenwucherer gegeben worden" (Robespierre, Maximilien: Rede über die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 24.4.1793, in: ders.: Reden, Redner der Revolution, Bd. 1, Berlin 1925, S.48, zit. nach Zimpel 1972, S. 49 f). Robespierre plante denn auch Umverteilungsmassnahmen, um die wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine politische Demokratie zu schaffen. Ähnliche Bestrebungen waren zur gleichen Zeit auch in Amerika in Gange, wo die dort entstandenen "demokratischen Clubs" eine breite Streuung des Eigentums befürworteten.

[28] Dies ist die zentrale Prämisse des ªPolitical-Culture' Ansatzes.

[29] Beck nennt es "Fahrstuhl-Effekt", wenn er davon spricht, dass "bei konstanten Ungleichheitsrelationen ein Umbruch im Verhältnis von Arbeit und Leben stattgefunden" hat (Beck 1986, S. 124).

[Inhalt]

Last update: 03 Feb 15

 

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